Stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dieß machte mich mild und nachgiebig, und der Ge¬ sellschaft angenehmer als in glänzenden Zeiten, wo mich nichts an einen Mangel oder einen Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden vor mich hinstürmte.
Die Antwort Friedrikens auf einen schrift¬ lichen Abschied zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes Unglück nicht ver¬ zeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum er¬ sten Mal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue, bey dem Man¬
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Stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dieß machte mich mild und nachgiebig, und der Ge¬ ſellſchaft angenehmer als in glaͤnzenden Zeiten, wo mich nichts an einen Mangel oder einen Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden vor mich hinſtuͤrmte.
Die Antwort Friedrikens auf einen ſchrift¬ lichen Abſchied zerriß mir das Herz. Es war dieſelbe Hand, derſelbe Sinn, daſſelbe Gefuͤhl, die ſich zu mir, die ſich an mir herangebildet hatten. Ich fuͤhlte nun erſt den Verluſt den ſie erlitt, und ſah keine Moͤglichkeit ihn zu erſetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwaͤrtig; ſtets empfand ich, daß ſie mir fehlte, und was das Schlimmſte war, ich konnte mir mein eignes Ungluͤck nicht ver¬ zeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlaſſen, hier war ich zum er¬ ſten Mal ſchuldig; ich hatte das ſchoͤnſte Herz in ſeinem Tiefſten verwundet, und ſo war die Epoche einer duͤſteren Reue, bey dem Man¬
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Stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dieß
machte mich mild und nachgiebig, und der Ge¬
ſellſchaft angenehmer als in glaͤnzenden Zeiten,
wo mich nichts an einen Mangel oder einen
Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden
vor mich hinſtuͤrmte.
Die Antwort Friedrikens auf einen ſchrift¬
lichen Abſchied zerriß mir das Herz. Es war
dieſelbe Hand, derſelbe Sinn, daſſelbe Gefuͤhl,
die ſich zu mir, die ſich an mir herangebildet
hatten. Ich fuͤhlte nun erſt den Verluſt den
ſie erlitt, und ſah keine Moͤglichkeit ihn zu
erſetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir
ganz gegenwaͤrtig; ſtets empfand ich, daß ſie
mir fehlte, und was das Schlimmſte war,
ich konnte mir mein eignes Ungluͤck nicht ver¬
zeihen. Gretchen hatte man mir genommen,
Annette mich verlaſſen, hier war ich zum er¬
ſten Mal ſchuldig; ich hatte das ſchoͤnſte Herz
in ſeinem Tiefſten verwundet, und ſo war die
Epoche einer duͤſteren Reue, bey dem Man¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/187>, abgerufen am 27.11.2024.
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