der so entschieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so großen Ein¬ fluß haben sollte, war Spinoza. Nach¬ dem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehn hatte, gerieth ich endlich an die Ethik dieses Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wüßte ich keine Rechenschaft zu geben, genug ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freye Aussicht über die sinnliche und sitt¬ liche Welt aufzuthun. Was mich aber be¬ sonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze her¬ vorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: "Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe" mit allen den Vor¬ dersätzen worauf es ruht, mit allen den Fol¬ gen die daraus entspringen, erfüllte mein
der ſo entſchieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweiſe ſo großen Ein¬ fluß haben ſollte, war Spinoza. Nach¬ dem ich mich naͤmlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Weſens vergebens umgeſehn hatte, gerieth ich endlich an die Ethik dieſes Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgeleſen, was ich in daſſelbe mag hineingeleſen haben, davon wuͤßte ich keine Rechenſchaft zu geben, genug ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenſchaften, es ſchien ſich mir eine große und freye Ausſicht uͤber die ſinnliche und ſitt¬ liche Welt aufzuthun. Was mich aber be¬ ſonders an ihn feſſelte, war die grenzenloſe Uneigennuͤtzigkeit, die aus jedem Satze her¬ vorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: „Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe“ mit allen den Vor¬ derſaͤtzen worauf es ruht, mit allen den Fol¬ gen die daraus entſpringen, erfuͤllte mein
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der ſo entſchieden auf mich wirkte, und der
auf meine ganze Denkweiſe ſo großen Ein¬
fluß haben ſollte, war Spinoza. Nach¬
dem ich mich naͤmlich in aller Welt um ein
Bildungsmittel meines wunderlichen Weſens
vergebens umgeſehn hatte, gerieth ich endlich
an die Ethik dieſes Mannes. Was ich
mir aus dem Werke mag herausgeleſen,
was ich in daſſelbe mag hineingeleſen haben,
davon wuͤßte ich keine Rechenſchaft zu geben,
genug ich fand hier eine Beruhigung meiner
Leidenſchaften, es ſchien ſich mir eine große
und freye Ausſicht uͤber die ſinnliche und ſitt¬
liche Welt aufzuthun. Was mich aber be¬
ſonders an ihn feſſelte, war die grenzenloſe
Uneigennuͤtzigkeit, die aus jedem Satze her¬
vorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: „Wer
Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß
Gott ihn wieder liebe“ mit allen den Vor¬
derſaͤtzen worauf es ruht, mit allen den Fol¬
gen die daraus entſpringen, erfuͤllte mein
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/449>, abgerufen am 23.11.2024.
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