erliegt, und Simon von Cyrene dasselbe wei¬ ter zu tragen gezwungen wird. Hier tritt Ahasverus hervor, nach hartverständiger Men¬ schen Art, die, wenn sie Jemand durch eigne Schuld unglücklich sehn, kein Mitleid fühlen, ja vielmehr durch unzeitige Gerechtigkeit ge¬ drungen, das Uebel durch Vorwürfe vermeh¬ ren; er tritt heraus und wiederholt alle frü¬ heren Warnungen, die er in heftige Beschul¬ digungen verwandelt, wozu ihn seine Nei¬ gung für den Leidenden zu berechtigen scheint. Dieser antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt die liebende Veronika des Heilands Gesicht mit dem Tuche, und da sie es weg¬ nimmt, und in die Höhe hält, erblickt Ahas¬ verus darauf das Antlitz des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart leidenden, son¬ dern eines herrlich Verklärten, und himmli¬ sches Leben Ausstrahlenden. Geblendet von dieser Erscheinung wendet er die Augen weg, und vernimmt die Worte: Du wandelst auf Erden, bis du mich in dieser Gestalt wieder
erliegt, und Simon von Cyrene daſſelbe wei¬ ter zu tragen gezwungen wird. Hier tritt Ahasverus hervor, nach hartverſtaͤndiger Men¬ ſchen Art, die, wenn ſie Jemand durch eigne Schuld ungluͤcklich ſehn, kein Mitleid fuͤhlen, ja vielmehr durch unzeitige Gerechtigkeit ge¬ drungen, das Uebel durch Vorwuͤrfe vermeh¬ ren; er tritt heraus und wiederholt alle fruͤ¬ heren Warnungen, die er in heftige Beſchul¬ digungen verwandelt, wozu ihn ſeine Nei¬ gung fuͤr den Leidenden zu berechtigen ſcheint. Dieſer antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt die liebende Veronika des Heilands Geſicht mit dem Tuche, und da ſie es weg¬ nimmt, und in die Hoͤhe haͤlt, erblickt Ahas¬ verus darauf das Antlitz des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart leidenden, ſon¬ dern eines herrlich Verklaͤrten, und himmli¬ ſches Leben Ausſtrahlenden. Geblendet von dieſer Erſcheinung wendet er die Augen weg, und vernimmt die Worte: Du wandelſt auf Erden, bis du mich in dieſer Geſtalt wieder
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erliegt, und Simon von Cyrene daſſelbe wei¬
ter zu tragen gezwungen wird. Hier tritt
Ahasverus hervor, nach hartverſtaͤndiger Men¬
ſchen Art, die, wenn ſie Jemand durch eigne
Schuld ungluͤcklich ſehn, kein Mitleid fuͤhlen,
ja vielmehr durch unzeitige Gerechtigkeit ge¬
drungen, das Uebel durch Vorwuͤrfe vermeh¬
ren; er tritt heraus und wiederholt alle fruͤ¬
heren Warnungen, die er in heftige Beſchul¬
digungen verwandelt, wozu ihn ſeine Nei¬
gung fuͤr den Leidenden zu berechtigen ſcheint.
Dieſer antwortet nicht, aber im Augenblicke
bedeckt die liebende Veronika des Heilands
Geſicht mit dem Tuche, und da ſie es weg¬
nimmt, und in die Hoͤhe haͤlt, erblickt Ahas¬
verus darauf das Antlitz des Herrn, aber
keineswegs des in Gegenwart leidenden, ſon¬
dern eines herrlich Verklaͤrten, und himmli¬
ſches Leben Ausſtrahlenden. Geblendet von
dieſer Erſcheinung wendet er die Augen weg,
und vernimmt die Worte: Du wandelſt auf
Erden, bis du mich in dieſer Geſtalt wieder
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/480>, abgerufen am 23.11.2024.
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