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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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gearbeitet hatte, war er höchlich erstaunt, daß
die sämmtlichen Köpfe dieser Hydra, die er mit
Füßen zu treten geglaubt, ihm schon wieder
ganz frisch von unzähligen Hälsen die Zähne
wiesen.

Wer seine Schriften, besonders sein tüch¬
tiges Werk über die Erfahrung liest,
wird bestimmter einsehen, was zwischen die¬
sem trefflichen Manne und mir verhandelt
worden; welches auf mich um so kräftiger
wirken mußte, da er zwanzig Jahr älter war
denn ich. Als berühmter Arzt war er vor¬
züglich in den höhern Ständen beschäftigt,
und hier kam die Verderbniß der Zeit, durch
Verweichlichung und Uebergenuß, jeden Augen¬
blick zur Sprache; und so drängten auch seine
ärztlichen Reden, wie die der Philosophen
und meiner dichterischen Freunde, mich wie¬
der auf die Natur zurück. Seine leidenschaft¬
liche Verbesserungswuth konnte ich vollends

gearbeitet hatte, war er hoͤchlich erſtaunt, daß
die ſaͤmmtlichen Koͤpfe dieſer Hydra, die er mit
Fuͤßen zu treten geglaubt, ihm ſchon wieder
ganz friſch von unzaͤhligen Haͤlſen die Zaͤhne
wieſen.

Wer ſeine Schriften, beſonders ſein tuͤch¬
tiges Werk uͤber die Erfahrung lieſt,
wird beſtimmter einſehen, was zwiſchen die¬
ſem trefflichen Manne und mir verhandelt
worden; welches auf mich um ſo kraͤftiger
wirken mußte, da er zwanzig Jahr aͤlter war
denn ich. Als beruͤhmter Arzt war er vor¬
zuͤglich in den hoͤhern Staͤnden beſchaͤftigt,
und hier kam die Verderbniß der Zeit, durch
Verweichlichung und Uebergenuß, jeden Augen¬
blick zur Sprache; und ſo draͤngten auch ſeine
aͤrztlichen Reden, wie die der Philoſophen
und meiner dichteriſchen Freunde, mich wie¬
der auf die Natur zuruͤck. Seine leidenſchaft¬
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[522/0530] gearbeitet hatte, war er hoͤchlich erſtaunt, daß die ſaͤmmtlichen Koͤpfe dieſer Hydra, die er mit Fuͤßen zu treten geglaubt, ihm ſchon wieder ganz friſch von unzaͤhligen Haͤlſen die Zaͤhne wieſen. Wer ſeine Schriften, beſonders ſein tuͤch¬ tiges Werk uͤber die Erfahrung lieſt, wird beſtimmter einſehen, was zwiſchen die¬ ſem trefflichen Manne und mir verhandelt worden; welches auf mich um ſo kraͤftiger wirken mußte, da er zwanzig Jahr aͤlter war denn ich. Als beruͤhmter Arzt war er vor¬ zuͤglich in den hoͤhern Staͤnden beſchaͤftigt, und hier kam die Verderbniß der Zeit, durch Verweichlichung und Uebergenuß, jeden Augen¬ blick zur Sprache; und ſo draͤngten auch ſeine aͤrztlichen Reden, wie die der Philoſophen und meiner dichteriſchen Freunde, mich wie¬ der auf die Natur zuruͤck. Seine leidenſchaft¬ liche Verbeſſerungswuth konnte ich vollends

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/530>, abgerufen am 17.06.2024.