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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Gassen. Auf dem großen Platze hub er sei¬
ne Hände gen Himmel, fühlte alles hinter
und unter sich, er hatte sich von allem los
gemacht. Nun dachte er sich in den Armen
seiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf
dem blendenden Theatergerüste, er schwebte
in einer Fülle von Hoffnungen, und nur
manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nacht¬
wächters, daß er noch auf dieser Erde
wandle.

Seine Geliebte kam ihm an der Treppe
entgegen, und wie schön! wie lieblich! In
dem neuen weißen Negligee empfing sie ihn,
er glaubte sie noch nie so reizend gesehen zu
haben. So weihte sie das Geschenk des ab¬
wesenden Liebhabers in den Armen des ge¬
genwärtigen ein, und mit wahrer Leiden¬
schaft verschwendete sie den ganzen Reich¬
thum ihrer Liebkosungen, welche ihr die Na¬
tur eingab, welche die Kunst sie gelehrt hat¬

W. Meisters Lehrj. G

Gaſſen. Auf dem großen Platze hub er ſei¬
ne Hände gen Himmel, fühlte alles hinter
und unter ſich, er hatte ſich von allem los
gemacht. Nun dachte er ſich in den Armen
ſeiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf
dem blendenden Theatergerüſte, er ſchwebte
in einer Fülle von Hoffnungen, und nur
manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nacht¬
wächters, daß er noch auf dieſer Erde
wandle.

Seine Geliebte kam ihm an der Treppe
entgegen, und wie ſchön! wie lieblich! In
dem neuen weißen Negligee empfing ſie ihn,
er glaubte ſie noch nie ſo reizend geſehen zu
haben. So weihte ſie das Geſchenk des ab¬
weſenden Liebhabers in den Armen des ge¬
genwärtigen ein, und mit wahrer Leiden¬
ſchaft verſchwendete ſie den ganzen Reich¬
thum ihrer Liebkoſungen, welche ihr die Na¬
tur eingab, welche die Kunſt ſie gelehrt hat¬

W. Meiſters Lehrj. G
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[97/0105] Gaſſen. Auf dem großen Platze hub er ſei¬ ne Hände gen Himmel, fühlte alles hinter und unter ſich, er hatte ſich von allem los gemacht. Nun dachte er ſich in den Armen ſeiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf dem blendenden Theatergerüſte, er ſchwebte in einer Fülle von Hoffnungen, und nur manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nacht¬ wächters, daß er noch auf dieſer Erde wandle. Seine Geliebte kam ihm an der Treppe entgegen, und wie ſchön! wie lieblich! In dem neuen weißen Negligee empfing ſie ihn, er glaubte ſie noch nie ſo reizend geſehen zu haben. So weihte ſie das Geſchenk des ab¬ weſenden Liebhabers in den Armen des ge¬ genwärtigen ein, und mit wahrer Leiden¬ ſchaft verſchwendete ſie den ganzen Reich¬ thum ihrer Liebkoſungen, welche ihr die Na¬ tur eingab, welche die Kunſt ſie gelehrt hat¬ W. Meiſters Lehrj. G

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/105>, abgerufen am 28.11.2024.