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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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vorzugehen pflegt, sah er hier in einer unan¬
genehmen Gerichtsstube vor seinen Augen:
den Streit wechselseitiger Großmuth, die
Stärke der Liebe im Unglück.

Ist es denn also wahr, sagte er bey sich
selbst, daß die schüchterne Zärtlichkeit, die
vor dem Auge der Sonne und der Men¬
schen sich verbirgt, und nur in abgesonderter
Einsamkeit, in tiefem Geheimnisse zu genießen
wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zu¬
fall hervorgeschleppt wird, sich alsdann mu¬
thiger, stärker, tapferer zeigt, als andere
brausende und großthuende Leidenschaften?

Zu seinem Troste schloß sich die ganze
Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden
beide in leidliche Verwahrung genommen,
und wenn es möglich gewesen wäre, so hätte
er noch diesen Abend das Frauenzimmer zu
ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er setz¬
te sich fest vor, hier ein Mittelsmann zu

vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬
genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen:
den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die
Stärke der Liebe im Unglück.

Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich
ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die
vor dem Auge der Sonne und der Men¬
ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter
Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen
wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬
fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬
thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere
brauſende und großthuende Leidenſchaften?

Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze
Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden
beide in leidliche Verwahrung genommen,
und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte
er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu
ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬
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[120/0128] vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬ genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen: den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die Stärke der Liebe im Unglück. Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Men¬ ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬ fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬ thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere brauſende und großthuende Leidenſchaften? Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬ te ſich feſt vor, hier ein Mittelsmann zu

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/128>, abgerufen am 26.11.2024.