vorzugehen pflegt, sah er hier in einer unan¬ genehmen Gerichtsstube vor seinen Augen: den Streit wechselseitiger Großmuth, die Stärke der Liebe im Unglück.
Ist es denn also wahr, sagte er bey sich selbst, daß die schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Men¬ schen sich verbirgt, und nur in abgesonderter Einsamkeit, in tiefem Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zu¬ fall hervorgeschleppt wird, sich alsdann mu¬ thiger, stärker, tapferer zeigt, als andere brausende und großthuende Leidenschaften?
Zu seinem Troste schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich gewesen wäre, so hätte er noch diesen Abend das Frauenzimmer zu ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er setz¬ te sich fest vor, hier ein Mittelsmann zu
vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬ genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen: den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die Stärke der Liebe im Unglück.
Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Men¬ ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬ fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬ thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere brauſende und großthuende Leidenſchaften?
Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬ te ſich feſt vor, hier ein Mittelsmann zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0128"n="120"/>
vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬<lb/>
genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen:<lb/>
den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die<lb/>
Stärke der Liebe im Unglück.</p><lb/><p>Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich<lb/>ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die<lb/>
vor dem Auge der Sonne und der Men¬<lb/>ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter<lb/>
Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen<lb/>
wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬<lb/>
fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬<lb/>
thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere<lb/>
brauſende und großthuende Leidenſchaften?</p><lb/><p>Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze<lb/>
Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden<lb/>
beide in leidliche Verwahrung genommen,<lb/>
und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte<lb/>
er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu<lb/>
ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬<lb/>
te ſich feſt vor, hier ein Mittelsmann zu<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[120/0128]
vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬
genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen:
den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die
Stärke der Liebe im Unglück.
Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich
ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die
vor dem Auge der Sonne und der Men¬
ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter
Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen
wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬
fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬
thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere
brauſende und großthuende Leidenſchaften?
Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze
Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden
beide in leidliche Verwahrung genommen,
und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte
er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu
ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬
te ſich feſt vor, hier ein Mittelsmann zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/128>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.