Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

mer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nach¬
leben zu verschaffen. Wie man einen Kör¬
per, so lange die Verwesung dauert, nicht
ganz todt nennen kann, so lange die Kräfte,
die vergebens nach ihren alten Bestimmun¬
gen zu wirken suchen, an der Zerstörung
der Theile, die sie sonst belebten, sich abar¬
beiten; nur dann, wenn sich alles an einan¬
der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze
in gleichgültigen Staub zerlegt sehen, dann
entsteht in uns das erbärmliche, leere Ge¬
fühl des Todes, nur durch den Athem des
Ewiglebenden zu erquicken.

In einem so neuen, ganzen, lieblichen
Gemüthe war viel zu zerreissen, zu zer¬
stören, zu ertödten, und die schnellheilende
Kraft der Jugend gab selbst der Gewalt des
Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.
Der Streich hatte sein ganzes Daseyn an
der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth

mer abgeſchiedenen Freuden ein kurzes Nach¬
leben zu verſchaffen. Wie man einen Kör¬
per, ſo lange die Verweſung dauert, nicht
ganz todt nennen kann, ſo lange die Kräfte,
die vergebens nach ihren alten Beſtimmun¬
gen zu wirken ſuchen, an der Zerſtörung
der Theile, die ſie ſonſt belebten, ſich abar¬
beiten; nur dann, wenn ſich alles an einan¬
der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze
in gleichgültigen Staub zerlegt ſehen, dann
entſteht in uns das erbärmliche, leere Ge¬
fühl des Todes, nur durch den Athem des
Ewiglebenden zu erquicken.

In einem ſo neuen, ganzen, lieblichen
Gemüthe war viel zu zerreiſſen, zu zer¬
ſtören, zu ertödten, und die ſchnellheilende
Kraft der Jugend gab ſelbſt der Gewalt des
Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.
Der Streich hatte ſein ganzes Daſeyn an
der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0196" n="188"/>
mer abge&#x017F;chiedenen Freuden ein kurzes Nach¬<lb/>
leben zu ver&#x017F;chaffen. Wie man einen Kör¬<lb/>
per, &#x017F;o lange die Verwe&#x017F;ung dauert, nicht<lb/>
ganz todt nennen kann, &#x017F;o lange die Kräfte,<lb/>
die vergebens nach ihren alten Be&#x017F;timmun¬<lb/>
gen zu wirken &#x017F;uchen, an der Zer&#x017F;törung<lb/>
der Theile, die &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t belebten, &#x017F;ich abar¬<lb/>
beiten; nur dann, wenn &#x017F;ich alles an einan¬<lb/>
der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze<lb/>
in gleichgültigen Staub zerlegt &#x017F;ehen, dann<lb/>
ent&#x017F;teht in uns das erbärmliche, leere Ge¬<lb/>
fühl des Todes, nur durch den Athem des<lb/>
Ewiglebenden zu erquicken.</p><lb/>
            <p>In einem &#x017F;o neuen, ganzen, lieblichen<lb/>
Gemüthe war viel zu zerrei&#x017F;&#x017F;en, zu zer¬<lb/>
&#x017F;tören, zu ertödten, und die &#x017F;chnellheilende<lb/>
Kraft der Jugend gab &#x017F;elb&#x017F;t der Gewalt des<lb/>
Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.<lb/>
Der Streich hatte &#x017F;ein ganzes Da&#x017F;eyn an<lb/>
der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0196] mer abgeſchiedenen Freuden ein kurzes Nach¬ leben zu verſchaffen. Wie man einen Kör¬ per, ſo lange die Verweſung dauert, nicht ganz todt nennen kann, ſo lange die Kräfte, die vergebens nach ihren alten Beſtimmun¬ gen zu wirken ſuchen, an der Zerſtörung der Theile, die ſie ſonſt belebten, ſich abar¬ beiten; nur dann, wenn ſich alles an einan¬ der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in gleichgültigen Staub zerlegt ſehen, dann entſteht in uns das erbärmliche, leere Ge¬ fühl des Todes, nur durch den Athem des Ewiglebenden zu erquicken. In einem ſo neuen, ganzen, lieblichen Gemüthe war viel zu zerreiſſen, zu zer¬ ſtören, zu ertödten, und die ſchnellheilende Kraft der Jugend gab ſelbſt der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich hatte ſein ganzes Daſeyn an der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/196
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/196>, abgerufen am 23.11.2024.