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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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ruhe schien ihre Zärtlichkeit zu vermehren;
sie war das lieblichste Geschöpf in seinen
Armen.

Als er aus dem ersten Taumel der Freu¬
de erwachte, und auf sein Leben und seine
Verhältnisse zurückblickte, erschien ihm alles
neu, seine Pflichten heiliger, seine Liebhabe¬
reyen lebhafter, seine Kenntnisse deutlicher,
seine Talente kräftiger, seine Vorsätze ent¬
schiedener. Es ward ihm daher leicht, eine
Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen
seines Vaters zu entgehen, seine Mutter zu
beruhigen und Marianens Liebe ungestört zu
genießen. Er verrichtete des Tags seine Ge¬
schäfte pünktlich, entsagte gewöhnlich dem
Schauspiel, war Abends bey Tische unterhal¬
tend, und schlich, wenn alles zu Bette war,
in seinen Mantel gehüllt, sachte zu dem
Garten hinaus und eilte, alle Lindors und
Leanders im Busen, unaufhaltsam zu seiner
Geliebten.

ruhe ſchien ihre Zärtlichkeit zu vermehren;
ſie war das lieblichſte Geſchöpf in ſeinen
Armen.

Als er aus dem erſten Taumel der Freu¬
de erwachte, und auf ſein Leben und ſeine
Verhältniſſe zurückblickte, erſchien ihm alles
neu, ſeine Pflichten heiliger, ſeine Liebhabe¬
reyen lebhafter, ſeine Kenntniſſe deutlicher,
ſeine Talente kräftiger, ſeine Vorſätze ent¬
ſchiedener. Es ward ihm daher leicht, eine
Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen
ſeines Vaters zu entgehen, ſeine Mutter zu
beruhigen und Marianens Liebe ungeſtört zu
genießen. Er verrichtete des Tags ſeine Ge¬
ſchäfte pünktlich, entſagte gewöhnlich dem
Schauſpiel, war Abends bey Tiſche unterhal¬
tend, und ſchlich, wenn alles zu Bette war,
in ſeinen Mantel gehüllt, ſachte zu dem
Garten hinaus und eilte, alle Lindors und
Leanders im Buſen, unaufhaltſam zu ſeiner
Geliebten.

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[20/0028] ruhe ſchien ihre Zärtlichkeit zu vermehren; ſie war das lieblichſte Geſchöpf in ſeinen Armen. Als er aus dem erſten Taumel der Freu¬ de erwachte, und auf ſein Leben und ſeine Verhältniſſe zurückblickte, erſchien ihm alles neu, ſeine Pflichten heiliger, ſeine Liebhabe¬ reyen lebhafter, ſeine Kenntniſſe deutlicher, ſeine Talente kräftiger, ſeine Vorſätze ent¬ ſchiedener. Es ward ihm daher leicht, eine Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen ſeines Vaters zu entgehen, ſeine Mutter zu beruhigen und Marianens Liebe ungeſtört zu genießen. Er verrichtete des Tags ſeine Ge¬ ſchäfte pünktlich, entſagte gewöhnlich dem Schauſpiel, war Abends bey Tiſche unterhal¬ tend, und ſchlich, wenn alles zu Bette war, in ſeinen Mantel gehüllt, ſachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und Leanders im Buſen, unaufhaltſam zu ſeiner Geliebten.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/28>, abgerufen am 21.11.2024.