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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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versetzte, sie ist oben, und mit wenigen
Sprüngen war er die Treppe hinauf, und
Wilhelm blieb wie auf der Schwelle einge¬
wurzelt stehen. Er hätte in den ersten Au¬
genblicken den Jungen bey den Haaren rück¬
wärts die Treppe herunterreissen mögen;
dann hemmte der heftige Kampf einer ge¬
waltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf
seiner Lebensgeister und seiner Ideen, und
da er sich nach und nach von seiner Erstar¬
rung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein
Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben
noch nicht empfunden hatte.

Er ging auf seine Stube, und fand Mi¬
gnon mit Schreiben beschäftigt. Das Kind
hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße
bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu
schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund
das Geschriebene zu korrigiren gegeben. Sie
war unermüdet, und faßte gut; aber die

verſetzte, ſie iſt oben, und mit wenigen
Sprüngen war er die Treppe hinauf, und
Wilhelm blieb wie auf der Schwelle einge¬
wurzelt ſtehen. Er hätte in den erſten Au¬
genblicken den Jungen bey den Haaren rück¬
wärts die Treppe herunterreiſſen mögen;
dann hemmte der heftige Kampf einer ge¬
waltſamen Eiferſucht auf einmal den Lauf
ſeiner Lebensgeiſter und ſeiner Ideen, und
da er ſich nach und nach von ſeiner Erſtar¬
rung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein
Unbehagen, dergleichen er in ſeinem Leben
noch nicht empfunden hatte.

Er ging auf ſeine Stube, und fand Mi¬
gnon mit Schreiben beſchäftigt. Das Kind
hatte ſich eine Zeit her mit großem Fleiße
bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu
ſchreiben, und hatte ſeinem Herrn und Freund
das Geſchriebene zu korrigiren gegeben. Sie
war unermüdet, und faßte gut; aber die

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[342/0350] verſetzte, ſie iſt oben, und mit wenigen Sprüngen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb wie auf der Schwelle einge¬ wurzelt ſtehen. Er hätte in den erſten Au¬ genblicken den Jungen bey den Haaren rück¬ wärts die Treppe herunterreiſſen mögen; dann hemmte der heftige Kampf einer ge¬ waltſamen Eiferſucht auf einmal den Lauf ſeiner Lebensgeiſter und ſeiner Ideen, und da er ſich nach und nach von ſeiner Erſtar¬ rung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in ſeinem Leben noch nicht empfunden hatte. Er ging auf ſeine Stube, und fand Mi¬ gnon mit Schreiben beſchäftigt. Das Kind hatte ſich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu ſchreiben, und hatte ſeinem Herrn und Freund das Geſchriebene zu korrigiren gegeben. Sie war unermüdet, und faßte gut; aber die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/350>, abgerufen am 22.11.2024.