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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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weißen Morgenkleide, und flehte um sein
Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre
schönen Haare, und ihr einschmeichelndes Be¬
tragen waren durch ihre neuste Gegenwart
wieder wirksam geworden, doch alles trat wie
hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn
er sich die edle, blühende Gräfin dachte, de¬
ren Arm er in wenig Minuten an seinem
Halse fühlen sollte, deren unschuldige Liebko¬
sungen er zu erwiedern aufgefordert war.

Die sonderbare Art, wie er aus dieser
Verlegenheit sollte gezogen werden, ahndete
er freylich nicht. Denn wie groß war sein
Erstaunen, ja sein Schrecken, als hinter ihm
die Thüre sich aufthat, und er bey dem er¬
sten verstohlnen Blick, den er in den Spiegel
warf, den Grafen ganz deutlich erblickte, der
mit einem Lichte in der Hand herein trat.
Sein Zweifel, was er zu thun habe, ob er
sitzen bleiben oder aufstehen, fliehen, beken¬

weißen Morgenkleide, und flehte um ſein
Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre
ſchönen Haare, und ihr einſchmeichelndes Be¬
tragen waren durch ihre neuſte Gegenwart
wieder wirkſam geworden, doch alles trat wie
hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn
er ſich die edle, blühende Gräfin dachte, de¬
ren Arm er in wenig Minuten an ſeinem
Halſe fühlen ſollte, deren unſchuldige Liebko¬
ſungen er zu erwiedern aufgefordert war.

Die ſonderbare Art, wie er aus dieſer
Verlegenheit ſollte gezogen werden, ahndete
er freylich nicht. Denn wie groß war ſein
Erſtaunen, ja ſein Schrecken, als hinter ihm
die Thüre ſich aufthat, und er bey dem er¬
ſten verſtohlnen Blick, den er in den Spiegel
warf, den Grafen ganz deutlich erblickte, der
mit einem Lichte in der Hand herein trat.
Sein Zweifel, was er zu thun habe, ob er
ſitzen bleiben oder aufſtehen, fliehen, beken¬

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[127/0135] weißen Morgenkleide, und flehte um ſein Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre ſchönen Haare, und ihr einſchmeichelndes Be¬ tragen waren durch ihre neuſte Gegenwart wieder wirkſam geworden, doch alles trat wie hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn er ſich die edle, blühende Gräfin dachte, de¬ ren Arm er in wenig Minuten an ſeinem Halſe fühlen ſollte, deren unſchuldige Liebko¬ ſungen er zu erwiedern aufgefordert war. Die ſonderbare Art, wie er aus dieſer Verlegenheit ſollte gezogen werden, ahndete er freylich nicht. Denn wie groß war ſein Erſtaunen, ja ſein Schrecken, als hinter ihm die Thüre ſich aufthat, und er bey dem er¬ ſten verſtohlnen Blick, den er in den Spiegel warf, den Grafen ganz deutlich erblickte, der mit einem Lichte in der Hand herein trat. Sein Zweifel, was er zu thun habe, ob er ſitzen bleiben oder aufſtehen, fliehen, beken¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/135>, abgerufen am 22.11.2024.