Ich wünschte, versetzte Wilhelm, daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vor¬ geht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schick¬ sale gehabt, die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespears Stücken erfüllt und entwickelt. Es scheint, als wenn er uns alle Räthsel offenbarte, ohne daß man doch sagen kann: hier oder da ist das Wort der Auflösung. Seine Menschen scheinen natürliche Men¬ schen zu seyn, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnißvollsten und zusammenge¬ setztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Fe¬ derwerk erkennen, das sie treibt. Diese we¬
Ich wünſchte, verſetzte Wilhelm, daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vor¬ geht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menſchheit und ihre Schick¬ ſale gehabt, die mich von Jugend auf, mir ſelbſt unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakeſpears Stücken erfüllt und entwickelt. Es ſcheint, als wenn er uns alle Räthſel offenbarte, ohne daß man doch ſagen kann: hier oder da iſt das Wort der Auflöſung. Seine Menſchen ſcheinen natürliche Men¬ ſchen zu ſeyn, und ſie ſind es doch nicht. Dieſe geheimnißvollſten und zuſammenge¬ ſetzteſten Geſchöpfe der Natur handeln vor uns in ſeinen Stücken, als wenn ſie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuſe man von Kriſtall gebildet hätte, ſie zeigen nach ihrer Beſtimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Fe¬ derwerk erkennen, das ſie treibt. Dieſe we¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0141"n="133"/><p>Ich wünſchte, verſetzte Wilhelm, daß ich<lb/>
Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vor¬<lb/>
geht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die<lb/>
ich jemals über Menſchheit und ihre Schick¬<lb/>ſale gehabt, die mich von Jugend auf, mir<lb/>ſelbſt unbemerkt, begleiteten, finde ich in<lb/>
Shakeſpears Stücken erfüllt und entwickelt.<lb/>
Es ſcheint, als wenn er uns alle Räthſel<lb/>
offenbarte, ohne daß man doch ſagen kann:<lb/>
hier oder da iſt das Wort der Auflöſung.<lb/>
Seine Menſchen ſcheinen natürliche Men¬<lb/>ſchen zu ſeyn, und ſie ſind es doch nicht.<lb/>
Dieſe geheimnißvollſten und zuſammenge¬<lb/>ſetzteſten Geſchöpfe der Natur handeln vor<lb/>
uns in ſeinen Stücken, als wenn ſie Uhren<lb/>
wären, deren Zifferblatt und Gehäuſe man<lb/>
von Kriſtall gebildet hätte, ſie zeigen nach<lb/>
ihrer Beſtimmung den Lauf der Stunden an,<lb/>
und man kann zugleich das Räder- und Fe¬<lb/>
derwerk erkennen, das ſie treibt. Dieſe we¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[133/0141]
Ich wünſchte, verſetzte Wilhelm, daß ich
Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vor¬
geht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die
ich jemals über Menſchheit und ihre Schick¬
ſale gehabt, die mich von Jugend auf, mir
ſelbſt unbemerkt, begleiteten, finde ich in
Shakeſpears Stücken erfüllt und entwickelt.
Es ſcheint, als wenn er uns alle Räthſel
offenbarte, ohne daß man doch ſagen kann:
hier oder da iſt das Wort der Auflöſung.
Seine Menſchen ſcheinen natürliche Men¬
ſchen zu ſeyn, und ſie ſind es doch nicht.
Dieſe geheimnißvollſten und zuſammenge¬
ſetzteſten Geſchöpfe der Natur handeln vor
uns in ſeinen Stücken, als wenn ſie Uhren
wären, deren Zifferblatt und Gehäuſe man
von Kriſtall gebildet hätte, ſie zeigen nach
ihrer Beſtimmung den Lauf der Stunden an,
und man kann zugleich das Räder- und Fe¬
derwerk erkennen, das ſie treibt. Dieſe we¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/141>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.