duldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und zurecht wieß.
Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigen¬ heiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt, und die sie ihm keineswegs nachzu¬ sehn gedachte. Er trank, zum Beyspiel, lie¬ ber aus der Flasche als aus dem Glase, und offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Schüssel besser als von dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht übersehen, und wenn er nun gar die Thüre aufließ oder zuschlug, und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungestüm davon rannte: so mußte er eine große Lection anhören, ohne daß er darauf je einige Besserung hätte spüren las¬ sen. Vielmehr schien die Neigung zu Aure¬ lien sich täglich mehr zu verlieren; in seinem Tone war nichts zärtliches wenn er sie Mut¬ ter nannte, er hing vielmehr leidenschaftlich
duldig und zeigte ſich immer unartiger, je mehr ſie es tadelte und zurecht wieß.
Der Knabe gefiel ſich in gewiſſen Eigen¬ heiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt, und die ſie ihm keineswegs nachzu¬ ſehn gedachte. Er trank, zum Beyſpiel, lie¬ ber aus der Flaſche als aus dem Glaſe, und offenbar ſchmeckten ihm die Speiſen aus der Schüſſel beſſer als von dem Teller. Eine ſolche Unſchicklichkeit wurde nicht überſehen, und wenn er nun gar die Thüre aufließ oder zuſchlug, und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungeſtüm davon rannte: ſo mußte er eine große Lection anhören, ohne daß er darauf je einige Beſſerung hätte ſpüren laſ¬ ſen. Vielmehr ſchien die Neigung zu Aure¬ lien ſich täglich mehr zu verlieren; in ſeinem Tone war nichts zärtliches wenn er ſie Mut¬ ter nannte, er hing vielmehr leidenſchaftlich
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duldig und zeigte ſich immer unartiger, je
mehr ſie es tadelte und zurecht wieß.
Der Knabe gefiel ſich in gewiſſen Eigen¬
heiten, die man auch Unarten zu nennen
pflegt, und die ſie ihm keineswegs nachzu¬
ſehn gedachte. Er trank, zum Beyſpiel, lie¬
ber aus der Flaſche als aus dem Glaſe, und
offenbar ſchmeckten ihm die Speiſen aus der
Schüſſel beſſer als von dem Teller. Eine
ſolche Unſchicklichkeit wurde nicht überſehen,
und wenn er nun gar die Thüre aufließ oder
zuſchlug, und, wenn ihm etwas befohlen
wurde, entweder nicht von der Stelle wich
oder ungeſtüm davon rannte: ſo mußte er
eine große Lection anhören, ohne daß er
darauf je einige Beſſerung hätte ſpüren laſ¬
ſen. Vielmehr ſchien die Neigung zu Aure¬
lien ſich täglich mehr zu verlieren; in ſeinem
Tone war nichts zärtliches wenn er ſie Mut¬
ter nannte, er hing vielmehr leidenſchaftlich
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/14>, abgerufen am 24.11.2024.
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