art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünschte zu sterben, aber ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer näher zu kommen. In den vielen schlaflosen Nächten habe ich besonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬ schreiben kann.
Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬ sellschaft des Körpers dächte, sie sah den Körper selbst als ein, ihr fremdes, Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht. Sie stellte sich mit einer außerordentlichen Leb¬ haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬ benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬ gen werde. Alle diese Zeiten sind dahin, was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬ per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin.
Diesem großen, erhabenen und tröstlichen
art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünſchte zu ſterben, aber ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu unterſuchen und ihm immer näher zu kommen. In den vielen ſchlafloſen Nächten habe ich beſonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬ ſchreiben kann.
Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬ ſellſchaft des Körpers dächte, ſie ſah den Körper ſelbſt als ein, ihr fremdes, Weſen an, wie man etwa ein Kleid anſieht. Sie ſtellte ſich mit einer außerordentlichen Leb¬ haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬ benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬ gen werde. Alle dieſe Zeiten ſind dahin, was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬ per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin.
Dieſem großen, erhabenen und tröſtlichen
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art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete
den Tod nicht, ja ich wünſchte zu ſterben, aber
ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit
gebe, meine Seele zu unterſuchen und ihm
immer näher zu kommen. In den vielen
ſchlafloſen Nächten habe ich beſonders etwas
empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬
ſchreiben kann.
Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬
ſellſchaft des Körpers dächte, ſie ſah den
Körper ſelbſt als ein, ihr fremdes, Weſen
an, wie man etwa ein Kleid anſieht. Sie
ſtellte ſich mit einer außerordentlichen Leb¬
haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬
benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬
gen werde. Alle dieſe Zeiten ſind dahin,
was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬
per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich,
das wohlbekannte Ich, Ich bin.
Dieſem großen, erhabenen und tröſtlichen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/363>, abgerufen am 04.01.2025.
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