ten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger Hast auf¬ rollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umständliche Ge¬ schichte seines Lebens in großen scharfen Zü¬ gen geschildert, weder einzelne Begebenhei¬ ten, noch beschränkte Empfindungen verwirr¬ ten seinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬ trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah zum ersten¬ mal sein Bild außer sich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweytes Selbst, sondern wie im Portrait, ein anderes Selbst; man bekennt sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut sich, daß ein denkender Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat darstellen wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht, und daß es länger als wir selbst dauren kann.
Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem
ten ihn eben nicht geſchont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger Haſt auf¬ rollte, ſo ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umſtändliche Ge¬ ſchichte ſeines Lebens in großen ſcharfen Zü¬ gen geſchildert, weder einzelne Begebenhei¬ ten, noch beſchränkte Empfindungen verwirr¬ ten ſeinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬ trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beſchämen, und er ſah zum erſten¬ mal ſein Bild außer ſich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweytes Selbſt, ſondern wie im Portrait, ein anderes Selbſt; man bekennt ſich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut ſich, daß ein denkender Geiſt uns ſo hat faſſen, ein großes Talent uns ſo hat darſtellen wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch beſteht, und daß es länger als wir ſelbſt dauren kann.
Wilhelm beſchäftigte ſich nunmehr, indem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0236"n="232"/>
ten ihn eben nicht geſchont, und wenn er<lb/>
gleich das Pergament mit einiger Haſt auf¬<lb/>
rollte, ſo ward er doch immer ruhiger, je<lb/>
weiter er las. Er fand die umſtändliche Ge¬<lb/>ſchichte ſeines Lebens in großen ſcharfen Zü¬<lb/>
gen geſchildert, weder einzelne Begebenhei¬<lb/>
ten, noch beſchränkte Empfindungen verwirr¬<lb/>
ten ſeinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬<lb/>
trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne<lb/>
ihn zu beſchämen, und er ſah zum erſten¬<lb/>
mal ſein Bild außer ſich, zwar nicht, wie im<lb/>
Spiegel, ein zweytes Selbſt, ſondern wie im<lb/>
Portrait, ein anderes Selbſt; man bekennt<lb/>ſich zwar nicht zu allen Zügen, aber man<lb/>
freut ſich, daß ein denkender Geiſt uns ſo<lb/>
hat faſſen, ein großes Talent uns ſo hat<lb/>
darſtellen wollen, daß ein Bild von dem,<lb/>
was wir waren, noch beſteht, und daß es<lb/>
länger als wir ſelbſt dauren kann.</p><lb/><p>Wilhelm beſchäftigte ſich nunmehr, indem<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[232/0236]
ten ihn eben nicht geſchont, und wenn er
gleich das Pergament mit einiger Haſt auf¬
rollte, ſo ward er doch immer ruhiger, je
weiter er las. Er fand die umſtändliche Ge¬
ſchichte ſeines Lebens in großen ſcharfen Zü¬
gen geſchildert, weder einzelne Begebenhei¬
ten, noch beſchränkte Empfindungen verwirr¬
ten ſeinen Blick, allgemeine liebevolle Be¬
trachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne
ihn zu beſchämen, und er ſah zum erſten¬
mal ſein Bild außer ſich, zwar nicht, wie im
Spiegel, ein zweytes Selbſt, ſondern wie im
Portrait, ein anderes Selbſt; man bekennt
ſich zwar nicht zu allen Zügen, aber man
freut ſich, daß ein denkender Geiſt uns ſo
hat faſſen, ein großes Talent uns ſo hat
darſtellen wollen, daß ein Bild von dem,
was wir waren, noch beſteht, und daß es
länger als wir ſelbſt dauren kann.
Wilhelm beſchäftigte ſich nunmehr, indem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/236>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.