men und Mittheilen im Kleinen. Vielleicht könnte Lothario in Einem Tage zerstöhren, woran dieser Jahre lang gebaut hat; aber vielleicht theilt auch Lothario, in einem Au¬ genblick, andern die Kraft mit, das Zer¬ stöhrte hundertfältig wieder herzustellen. -- Es ist ein trauriges Geschäft, sagte Wilhelm, wenn man über die reinen Vorzüge der an¬ dern in einem Augenblicke denken soll, da man mit sich selbst uneins ist; solche Betrach¬ tungen stehen dem ruhigen Manne wohl an, nicht dem, der von Leidenschaft und Unge¬ wisheit bewegt ist. -- Ruhig und vernünf¬ tig zu betrachten ist zu keiner Zeit schädlich, und indem wir uns gewöhnen über die Vor¬ züge anderer zu denken, stellen sich die un¬ sern unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede falsche Thätigkeit, wozu uns die Phan¬ tasie lockt, wird alsdann gern von uns auf¬ gegeben. Befreyen Sie wo möglich Ihren
men und Mittheilen im Kleinen. Vielleicht könnte Lothario in Einem Tage zerſtöhren, woran dieſer Jahre lang gebaut hat; aber vielleicht theilt auch Lothario, in einem Au¬ genblick, andern die Kraft mit, das Zer¬ ſtöhrte hundertfältig wieder herzuſtellen. — Es iſt ein trauriges Geſchäft, ſagte Wilhelm, wenn man über die reinen Vorzüge der an¬ dern in einem Augenblicke denken ſoll, da man mit ſich ſelbſt uneins iſt; ſolche Betrach¬ tungen ſtehen dem ruhigen Manne wohl an, nicht dem, der von Leidenſchaft und Unge¬ wisheit bewegt iſt. — Ruhig und vernünf¬ tig zu betrachten iſt zu keiner Zeit ſchädlich, und indem wir uns gewöhnen über die Vor¬ züge anderer zu denken, ſtellen ſich die un¬ ſern unvermerkt ſelbſt an ihren Platz, und jede falſche Thätigkeit, wozu uns die Phan¬ taſie lockt, wird alsdann gern von uns auf¬ gegeben. Befreyen Sie wo möglich Ihren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0363"n="359"/>
men und Mittheilen im Kleinen. Vielleicht<lb/>
könnte Lothario in Einem Tage zerſtöhren,<lb/>
woran dieſer Jahre lang gebaut hat; aber<lb/>
vielleicht theilt auch Lothario, in einem Au¬<lb/>
genblick, andern die Kraft mit, das Zer¬<lb/>ſtöhrte hundertfältig wieder herzuſtellen. —<lb/>
Es iſt ein trauriges Geſchäft, ſagte Wilhelm,<lb/>
wenn man über die reinen Vorzüge der an¬<lb/>
dern in einem Augenblicke denken ſoll, da<lb/>
man mit ſich ſelbſt uneins iſt; ſolche Betrach¬<lb/>
tungen ſtehen dem ruhigen Manne wohl an,<lb/>
nicht dem, der von Leidenſchaft und Unge¬<lb/>
wisheit bewegt iſt. — Ruhig und vernünf¬<lb/>
tig zu betrachten iſt zu keiner Zeit ſchädlich,<lb/>
und indem wir uns gewöhnen über die Vor¬<lb/>
züge anderer zu denken, ſtellen ſich die un¬<lb/>ſern unvermerkt ſelbſt an ihren Platz, und<lb/>
jede falſche Thätigkeit, wozu uns die Phan¬<lb/>
taſie lockt, wird alsdann gern von uns auf¬<lb/>
gegeben. Befreyen Sie wo möglich Ihren<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[359/0363]
men und Mittheilen im Kleinen. Vielleicht
könnte Lothario in Einem Tage zerſtöhren,
woran dieſer Jahre lang gebaut hat; aber
vielleicht theilt auch Lothario, in einem Au¬
genblick, andern die Kraft mit, das Zer¬
ſtöhrte hundertfältig wieder herzuſtellen. —
Es iſt ein trauriges Geſchäft, ſagte Wilhelm,
wenn man über die reinen Vorzüge der an¬
dern in einem Augenblicke denken ſoll, da
man mit ſich ſelbſt uneins iſt; ſolche Betrach¬
tungen ſtehen dem ruhigen Manne wohl an,
nicht dem, der von Leidenſchaft und Unge¬
wisheit bewegt iſt. — Ruhig und vernünf¬
tig zu betrachten iſt zu keiner Zeit ſchädlich,
und indem wir uns gewöhnen über die Vor¬
züge anderer zu denken, ſtellen ſich die un¬
ſern unvermerkt ſelbſt an ihren Platz, und
jede falſche Thätigkeit, wozu uns die Phan¬
taſie lockt, wird alsdann gern von uns auf¬
gegeben. Befreyen Sie wo möglich Ihren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/363>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.