Bey der Betrachtung, daß vortreffliche Kunstwerke in der neuern Zeit so selten seyen, sagte der Markese: es läßt sich nicht leicht denken und übersehen, was die Umstände für den Künstler thun müssen, und dann sind bey dem größten Genie, bey dem ent¬ scheidensten Talente noch immer die Forde¬ rungen unendlich, die er an sich selbst zu machen hat, unsäglich der Fleiß, der zu sei¬ ner Ausbildung nöthig ist. Wenn nun die Umstände wenig für ihn thun, wenn er be¬ merkt, daß die Welt sehr leicht zu befriedi¬ gen ist, und selbst nur einen leichten, gefäl¬ ligen, behaglichen Schein begehrt; so wäre es zu verwundern, wenn nicht Bequemlich¬ keit und Eigenliebe ihn bey dem Mittelmäßi¬ gen fest hielten, es wäre seltsam, wenn er nicht lieber für Modewaaren Geld und Lob eintauschen, als den rechten Weg wählen sollte, der ihn mehr oder weniger zu einem
Bey der Betrachtung, daß vortreffliche Kunſtwerke in der neuern Zeit ſo ſelten ſeyen, ſagte der Markeſe: es läßt ſich nicht leicht denken und überſehen, was die Umſtände für den Künſtler thun müſſen, und dann ſind bey dem größten Genie, bey dem ent¬ ſcheidenſten Talente noch immer die Forde¬ rungen unendlich, die er an ſich ſelbſt zu machen hat, unſäglich der Fleiß, der zu ſei¬ ner Ausbildung nöthig iſt. Wenn nun die Umſtände wenig für ihn thun, wenn er be¬ merkt, daß die Welt ſehr leicht zu befriedi¬ gen iſt, und ſelbſt nur einen leichten, gefäl¬ ligen, behaglichen Schein begehrt; ſo wäre es zu verwundern, wenn nicht Bequemlich¬ keit und Eigenliebe ihn bey dem Mittelmäßi¬ gen feſt hielten, es wäre ſeltſam, wenn er nicht lieber für Modewaaren Geld und Lob eintauſchen, als den rechten Weg wählen ſollte, der ihn mehr oder weniger zu einem
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Bey der Betrachtung, daß vortreffliche
Kunſtwerke in der neuern Zeit ſo ſelten ſeyen,
ſagte der Markeſe: es läßt ſich nicht leicht
denken und überſehen, was die Umſtände
für den Künſtler thun müſſen, und dann
ſind bey dem größten Genie, bey dem ent¬
ſcheidenſten Talente noch immer die Forde¬
rungen unendlich, die er an ſich ſelbſt zu
machen hat, unſäglich der Fleiß, der zu ſei¬
ner Ausbildung nöthig iſt. Wenn nun die
Umſtände wenig für ihn thun, wenn er be¬
merkt, daß die Welt ſehr leicht zu befriedi¬
gen iſt, und ſelbſt nur einen leichten, gefäl¬
ligen, behaglichen Schein begehrt; ſo wäre
es zu verwundern, wenn nicht Bequemlich¬
keit und Eigenliebe ihn bey dem Mittelmäßi¬
gen feſt hielten, es wäre ſeltſam, wenn er
nicht lieber für Modewaaren Geld und Lob
eintauſchen, als den rechten Weg wählen
ſollte, der ihn mehr oder weniger zu einem
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/411>, abgerufen am 22.11.2024.
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