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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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stellungsart so verwirrt, daß sie, ohne wahn¬
sinnig zu seyn, sich in den seltsamsten Zu¬
ständen befand. Ihr Vergehen schien ihr im¬
mer schrecklicher und straffälliger zu werden,
das oft wiederholte Gleichniß des Geistlichen
vom Inceste hatte sich so tief bey ihr einge¬
prägt, daß sie einen solchen Abscheu em¬
pfand, als wenn ihr das Verhältniß selbst
bekannt gewesen wäre. Der Beichtvater
dünkte sich nicht wenig über das Kunststück,
wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬
schöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬
sehen, wie die Mutterliebe, die über das
Daseyn des Kindes sich so herzlich zu er¬
freuen geneigt war, mit dem schrecklichen
Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht da
seyn sollte. Bald stritten diese beyden Ge¬
fühle zusammen, bald war der Abscheu über
die Liebe gewaltig.

Man hatte das Kind schon lange von

ſtellungsart ſo verwirrt, daß ſie, ohne wahn¬
ſinnig zu ſeyn, ſich in den ſeltſamſten Zu¬
ſtänden befand. Ihr Vergehen ſchien ihr im¬
mer ſchrecklicher und ſtraffälliger zu werden,
das oft wiederholte Gleichniß des Geiſtlichen
vom Inceſte hatte ſich ſo tief bey ihr einge¬
prägt, daß ſie einen ſolchen Abſcheu em¬
pfand, als wenn ihr das Verhältniß ſelbſt
bekannt geweſen wäre. Der Beichtvater
dünkte ſich nicht wenig über das Kunſtſtück,
wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬
ſchöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬
ſehen, wie die Mutterliebe, die über das
Daſeyn des Kindes ſich ſo herzlich zu er¬
freuen geneigt war, mit dem ſchrecklichen
Gedanken ſtritt, daß dieſes Kind nicht da
ſeyn ſollte. Bald ſtritten dieſe beyden Ge¬
fühle zuſammen, bald war der Abſcheu über
die Liebe gewaltig.

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[446/0450] ſtellungsart ſo verwirrt, daß ſie, ohne wahn¬ ſinnig zu ſeyn, ſich in den ſeltſamſten Zu¬ ſtänden befand. Ihr Vergehen ſchien ihr im¬ mer ſchrecklicher und ſtraffälliger zu werden, das oft wiederholte Gleichniß des Geiſtlichen vom Inceſte hatte ſich ſo tief bey ihr einge¬ prägt, daß ſie einen ſolchen Abſcheu em¬ pfand, als wenn ihr das Verhältniß ſelbſt bekannt geweſen wäre. Der Beichtvater dünkte ſich nicht wenig über das Kunſtſtück, wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬ ſchöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬ ſehen, wie die Mutterliebe, die über das Daſeyn des Kindes ſich ſo herzlich zu er¬ freuen geneigt war, mit dem ſchrecklichen Gedanken ſtritt, daß dieſes Kind nicht da ſeyn ſollte. Bald ſtritten dieſe beyden Ge¬ fühle zuſammen, bald war der Abſcheu über die Liebe gewaltig. Man hatte das Kind ſchon lange von

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/450>, abgerufen am 22.11.2024.