Betrachten wir eine Pflanze in sofern sie ihre Lebenskraft äussert, so sehen wir dieses auf eine doppelte Art geschehen, zuerst, durch das Wachsthum indem sie Stengel und Blätter hervor- bringt, und sodann durch die Fortpflanzung, welche in dem Blüthen- und Fruchtbau vollendet wird. Beschauen wir das Wachsthum näher, so sehen wir, dass, indem die Pflanze sich von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortsezt, indem sie sprosst, gleichfalls eine Fortpflanzung geschehe, die sich von der Fortpflanzung durch Blüthe und Frucht, welche auf einmal geschiehet, darinn unterscheidet, dass sie successiv ist, dass sie sich in einer Folge einzelner Entwicke- lungen zeigt. Diese sprossende, nach und nach sich äussernde Kraft ist mit jener, welche auf einmal eine grosse Fortpflanzung entwickelt, auf das genauste verwandt. Man kann unter verschiedenen Umständen eine Pflanze nöthigen, dass sie immerfort sprosse, man kann dagegen den Blüthenstand beschleunigen. Jenes geschieht, wenn rohere Säfte der Pflanze in einem grösseren Masse zudringen; dieses, wenn die geistigeren Kräfte in derselben überwiegen.
§. 114.
§. 113.
Betrachten wir eine Pflanze in ſofern ſie ihre Lebenskraft äuſsert, ſo ſehen wir dieſes auf eine doppelte Art geſchehen, zuerſt, durch das Wachsthum indem ſie Stengel und Blätter hervor- bringt, und ſodann durch die Fortpflanzung, welche in dem Blüthen- und Fruchtbau vollendet wird. Beſchauen wir das Wachsthum näher, ſo ſehen wir, daſs, indem die Pflanze ſich von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortſezt, indem ſie ſproſst, gleichfalls eine Fortpflanzung geſchehe, die ſich von der Fortpflanzung durch Blüthe und Frucht, welche auf einmal geſchiehet, darinn unterſcheidet, daſs ſie ſucceſſiv iſt, daſs ſie ſich in einer Folge einzelner Entwicke- lungen zeigt. Dieſe ſproſsende, nach und nach ſich äuſsernde Kraft iſt mit jener, welche auf einmal eine groſse Fortpflanzung entwickelt, auf das genauſte verwandt. Man kann unter verſchiedenen Umſtänden eine Pflanze nöthigen, daſs ſie immerfort ſproſse, man kann dagegen den Blüthenſtand beſchleunigen. Jenes geſchieht, wenn rohere Säfte der Pflanze in einem gröſseren Maſse zudringen; dieſes, wenn die geiſtigeren Kräfte in derſelben überwiegen.
§. 114.
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§. 113.
Betrachten wir eine Pflanze in ſofern ſie ihre
Lebenskraft äuſsert, ſo ſehen wir dieſes auf
eine doppelte Art geſchehen, zuerſt, durch das
Wachsthum indem ſie Stengel und Blätter hervor-
bringt, und ſodann durch die Fortpflanzung,
welche in dem Blüthen- und Fruchtbau vollendet
wird. Beſchauen wir das Wachsthum näher,
ſo ſehen wir, daſs, indem die Pflanze ſich von
Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortſezt,
indem ſie ſproſst, gleichfalls eine Fortpflanzung
geſchehe, die ſich von der Fortpflanzung durch
Blüthe und Frucht, welche auf einmal geſchiehet,
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ſie ſich in einer Folge einzelner Entwicke-
lungen zeigt. Dieſe ſproſsende, nach und nach
ſich äuſsernde Kraft iſt mit jener, welche auf
einmal eine groſse Fortpflanzung entwickelt,
auf das genauſte verwandt. Man kann unter
verſchiedenen Umſtänden eine Pflanze nöthigen,
daſs ſie immerfort ſproſse, man kann dagegen
den Blüthenſtand beſchleunigen. Jenes geſchieht,
wenn rohere Säfte der Pflanze in einem gröſseren
Maſse zudringen; dieſes, wenn die geiſtigeren
Kräfte in derſelben überwiegen.
§. 114.
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Es existieren zwei Drucke des "Versuchs" von 1790… [mehr]
Es existieren zwei Drucke des "Versuchs" von 1790. Nach Waltraud Hagen (Die Drucke von Goethes Werken) umfassen diese in der Erstausgabe (Hagen S. 211) 86 Seiten und in einer zweiten Ausgabe aus dem gleichen Jahr (Hagen S. 212) 79 Seiten. Für das Deutsche Textarchiv wurde die 86-seitige Ausgabe zu grunde gelegte.
Goethe, Johann Wolfgang von: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. Gotha, 1790, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_metamorphose_1790/95>, abgerufen am 19.02.2025.
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