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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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mehrte sich mit jedem Augenblicke. Er ging
in dem großen Saale auf und ab, versuchte
allerley und nichts vermochte seine Aufmerk¬
samkeit zu fesseln. Sie wünschte er zu sehen,
allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem
Hauptmann zurückkäme. Es ward Nacht,
die Kerzen wurden angezündet.

Endlich trat sie herein, glänzend von Lie¬
benswürdigkeit. Das Gefühl etwas für den
Freund gethan zu haben, hatte ihr ganzes
Wesen über sich selbst gehoben. Sie legte
das Original und die Abschrift vor Eduard
auf den Tisch. Wollen wir collationiren?
sagte sie lächelnd. Eduard wußte nicht was
er erwiedern sollte. Er sah sie an, er besah
die Abschrift. Die ersten Blätter waren mit
der größten Sorgfalt, mit einer zarten weib¬
lichen Hand geschrieben; dann schienen sich
die Züge zu verändern, leichter und freyer zu
werden: aber wie erstaunt war er, als er
die letzten Seiten mit den Augen überlief!

mehrte ſich mit jedem Augenblicke. Er ging
in dem großen Saale auf und ab, verſuchte
allerley und nichts vermochte ſeine Aufmerk¬
ſamkeit zu feſſeln. Sie wuͤnſchte er zu ſehen,
allein zu ſehen, ehe noch Charlotte mit dem
Hauptmann zuruͤckkaͤme. Es ward Nacht,
die Kerzen wurden angezuͤndet.

Endlich trat ſie herein, glaͤnzend von Lie¬
benswuͤrdigkeit. Das Gefuͤhl etwas fuͤr den
Freund gethan zu haben, hatte ihr ganzes
Weſen uͤber ſich ſelbſt gehoben. Sie legte
das Original und die Abſchrift vor Eduard
auf den Tiſch. Wollen wir collationiren?
ſagte ſie laͤchelnd. Eduard wußte nicht was
er erwiedern ſollte. Er ſah ſie an, er beſah
die Abſchrift. Die erſten Blaͤtter waren mit
der groͤßten Sorgfalt, mit einer zarten weib¬
lichen Hand geſchrieben; dann ſchienen ſich
die Zuͤge zu veraͤndern, leichter und freyer zu
werden: aber wie erſtaunt war er, als er
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[213/0218] mehrte ſich mit jedem Augenblicke. Er ging in dem großen Saale auf und ab, verſuchte allerley und nichts vermochte ſeine Aufmerk¬ ſamkeit zu feſſeln. Sie wuͤnſchte er zu ſehen, allein zu ſehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zuruͤckkaͤme. Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezuͤndet. Endlich trat ſie herein, glaͤnzend von Lie¬ benswuͤrdigkeit. Das Gefuͤhl etwas fuͤr den Freund gethan zu haben, hatte ihr ganzes Weſen uͤber ſich ſelbſt gehoben. Sie legte das Original und die Abſchrift vor Eduard auf den Tiſch. Wollen wir collationiren? ſagte ſie laͤchelnd. Eduard wußte nicht was er erwiedern ſollte. Er ſah ſie an, er beſah die Abſchrift. Die erſten Blaͤtter waren mit der groͤßten Sorgfalt, mit einer zarten weib¬ lichen Hand geſchrieben; dann ſchienen ſich die Zuͤge zu veraͤndern, leichter und freyer zu werden: aber wie erſtaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen uͤberlief!

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/218>, abgerufen am 27.11.2024.