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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Sache für bekannt annahm, und als ent¬
schieden voraussetzte, daß ein freundschaftliches
ruhiges Verhältniß zwischen ihrem Gatten und
Ottilien möglich sey. Wie oft aber lag diese
Nachts, wenn sie sich eingeschlossen, auf den
Knieen vor dem eröffneten Koffer und betrach¬
tete die Geburtstagsgeschenke, von denen sie
noch nichts gebraucht, nichts zerschnitten, nichts
gefertigt. Wie oft eilte das gute Mädchen
mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem
sie sonst alle ihre Glückseligkeit gefunden hatte,
ins Freye hinaus, in die Gegend, die sie
sonst nicht ansprach. Auch auf dem Boden
mochte sie nicht verweilen. Sie sprang in
den Kahn, und ruderte sich bis mitten in den
See: dann zog sie eine Reisebeschreibung her¬
vor, ließ sich von den bewegten Wellen schau¬
keln, las, träumte sich in die Fremde und
immer fand sie dort ihren Freund; seinem
Herzen war sie noch immer nahe geblieben,
er dem ihrigen.


Sache fuͤr bekannt annahm, und als ent¬
ſchieden vorausſetzte, daß ein freundſchaftliches
ruhiges Verhaͤltniß zwiſchen ihrem Gatten und
Ottilien moͤglich ſey. Wie oft aber lag dieſe
Nachts, wenn ſie ſich eingeſchloſſen, auf den
Knieen vor dem eroͤffneten Koffer und betrach¬
tete die Geburtstagsgeſchenke, von denen ſie
noch nichts gebraucht, nichts zerſchnitten, nichts
gefertigt. Wie oft eilte das gute Maͤdchen
mit Sonnenaufgang aus dem Hauſe, in dem
ſie ſonſt alle ihre Gluͤckſeligkeit gefunden hatte,
ins Freye hinaus, in die Gegend, die ſie
ſonſt nicht anſprach. Auch auf dem Boden
mochte ſie nicht verweilen. Sie ſprang in
den Kahn, und ruderte ſich bis mitten in den
See: dann zog ſie eine Reiſebeſchreibung her¬
vor, ließ ſich von den bewegten Wellen ſchau¬
keln, las, traͤumte ſich in die Fremde und
immer fand ſie dort ihren Freund; ſeinem
Herzen war ſie noch immer nahe geblieben,
er dem ihrigen.


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[286/0291] Sache fuͤr bekannt annahm, und als ent¬ ſchieden vorausſetzte, daß ein freundſchaftliches ruhiges Verhaͤltniß zwiſchen ihrem Gatten und Ottilien moͤglich ſey. Wie oft aber lag dieſe Nachts, wenn ſie ſich eingeſchloſſen, auf den Knieen vor dem eroͤffneten Koffer und betrach¬ tete die Geburtstagsgeſchenke, von denen ſie noch nichts gebraucht, nichts zerſchnitten, nichts gefertigt. Wie oft eilte das gute Maͤdchen mit Sonnenaufgang aus dem Hauſe, in dem ſie ſonſt alle ihre Gluͤckſeligkeit gefunden hatte, ins Freye hinaus, in die Gegend, die ſie ſonſt nicht anſprach. Auch auf dem Boden mochte ſie nicht verweilen. Sie ſprang in den Kahn, und ruderte ſich bis mitten in den See: dann zog ſie eine Reiſebeſchreibung her¬ vor, ließ ſich von den bewegten Wellen ſchau¬ keln, las, traͤumte ſich in die Fremde und immer fand ſie dort ihren Freund; ſeinem Herzen war ſie noch immer nahe geblieben, er dem ihrigen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/291>, abgerufen am 24.11.2024.