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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Wir sind wunderliche Menschen, sagte
Eduard lächelnd. Wenn wir nur etwas das
uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart
verbannen können, da glauben wir schon,
nun sey es abgethan. Im Ganzen kön¬
nen wir vieles aufopfern, aber uns im Ein¬
zelnen herzugeben, ist eine Forderung, der wir
selten gewachsen sind. So war meine Mut¬
ter. So lange ich als Knabe oder Jüngling
bey ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen
Besorgnisse nicht los werden. Verspätete ich
mich bey einem Ausritt, so mußte mir ein
Unglück begegnet seyn; durchnetzte mich ein
Regenschauer, so war das Fieber mir gewiß.
Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und
nun schien ich ihr kaum anzugehören.

Betrachten wir es genauer, fuhr er fort,
so handeln wir beyde thörigt und unverant¬
wortlich, zwey der edelsten Naturen, die unser
Herz so nahe angehen, im Kummer und im
Druck zu lassen, nur um uns keiner Ge¬

Wir ſind wunderliche Menſchen, ſagte
Eduard laͤchelnd. Wenn wir nur etwas das
uns Sorge macht, aus unſerer Gegenwart
verbannen koͤnnen, da glauben wir ſchon,
nun ſey es abgethan. Im Ganzen koͤn¬
nen wir vieles aufopfern, aber uns im Ein¬
zelnen herzugeben, iſt eine Forderung, der wir
ſelten gewachſen ſind. So war meine Mut¬
ter. So lange ich als Knabe oder Juͤngling
bey ihr lebte, konnte ſie der augenblicklichen
Beſorgniſſe nicht los werden. Verſpaͤtete ich
mich bey einem Ausritt, ſo mußte mir ein
Ungluͤck begegnet ſeyn; durchnetzte mich ein
Regenſchauer, ſo war das Fieber mir gewiß.
Ich verreiſte, ich entfernte mich von ihr, und
nun ſchien ich ihr kaum anzugehoͤren.

Betrachten wir es genauer, fuhr er fort,
ſo handeln wir beyde thoͤrigt und unverant¬
wortlich, zwey der edelſten Naturen, die unſer
Herz ſo nahe angehen, im Kummer und im
Druck zu laſſen, nur um uns keiner Ge¬

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[29/0034] Wir ſind wunderliche Menſchen, ſagte Eduard laͤchelnd. Wenn wir nur etwas das uns Sorge macht, aus unſerer Gegenwart verbannen koͤnnen, da glauben wir ſchon, nun ſey es abgethan. Im Ganzen koͤn¬ nen wir vieles aufopfern, aber uns im Ein¬ zelnen herzugeben, iſt eine Forderung, der wir ſelten gewachſen ſind. So war meine Mut¬ ter. So lange ich als Knabe oder Juͤngling bey ihr lebte, konnte ſie der augenblicklichen Beſorgniſſe nicht los werden. Verſpaͤtete ich mich bey einem Ausritt, ſo mußte mir ein Ungluͤck begegnet ſeyn; durchnetzte mich ein Regenſchauer, ſo war das Fieber mir gewiß. Ich verreiſte, ich entfernte mich von ihr, und nun ſchien ich ihr kaum anzugehoͤren. Betrachten wir es genauer, fuhr er fort, ſo handeln wir beyde thoͤrigt und unverant¬ wortlich, zwey der edelſten Naturen, die unſer Herz ſo nahe angehen, im Kummer und im Druck zu laſſen, nur um uns keiner Ge¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/34>, abgerufen am 21.11.2024.