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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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immer so zu setzen, daß er Niemand im Rü¬
cken hatte. Jetzt zu dreyen war diese Vor¬
sicht unnöthig; und da es dießmal nicht auf
Erregung des Gefühls, auf Ueberraschung
der Einbildungskraft angesehen war; so dachte
er selbst nicht daran, sich sonderlich in Acht
zu nehmen.

Nur eines Abends fiel es ihm auf, als
er sich nachlässig gesetzt hatte, daß Charlotte
ihm in das Buch sah. Seine alte Ungeduld
erwachte und er verwies es ihr, gewisserma¬
ßen unfreundlich. Wollte man sich doch sol¬
che Unarten, wie so manches andre was der
Gesellschaft lästig ist, ein für allemal abge¬
wöhnen. Wenn ich Jemand vorlese, ist es
denn nicht als wenn ich ihm mündlich etwas
vortrüge? Das Geschriebene, das Gedruckte
tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes,
meines eigenen Herzens; und würde ich mich
wohl zu reden bemühen, wenn ein Fensterchen
vor meiner Stirn, vor meiner Brust ange¬

immer ſo zu ſetzen, daß er Niemand im Ruͤ¬
cken hatte. Jetzt zu dreyen war dieſe Vor¬
ſicht unnoͤthig; und da es dießmal nicht auf
Erregung des Gefuͤhls, auf Ueberraſchung
der Einbildungskraft angeſehen war; ſo dachte
er ſelbſt nicht daran, ſich ſonderlich in Acht
zu nehmen.

Nur eines Abends fiel es ihm auf, als
er ſich nachlaͤſſig geſetzt hatte, daß Charlotte
ihm in das Buch ſah. Seine alte Ungeduld
erwachte und er verwies es ihr, gewiſſerma¬
ßen unfreundlich. Wollte man ſich doch ſol¬
che Unarten, wie ſo manches andre was der
Geſellſchaft laͤſtig iſt, ein fuͤr allemal abge¬
woͤhnen. Wenn ich Jemand vorleſe, iſt es
denn nicht als wenn ich ihm muͤndlich etwas
vortruͤge? Das Geſchriebene, das Gedruckte
tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes,
meines eigenen Herzens; und wuͤrde ich mich
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[73/0078] immer ſo zu ſetzen, daß er Niemand im Ruͤ¬ cken hatte. Jetzt zu dreyen war dieſe Vor¬ ſicht unnoͤthig; und da es dießmal nicht auf Erregung des Gefuͤhls, auf Ueberraſchung der Einbildungskraft angeſehen war; ſo dachte er ſelbſt nicht daran, ſich ſonderlich in Acht zu nehmen. Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er ſich nachlaͤſſig geſetzt hatte, daß Charlotte ihm in das Buch ſah. Seine alte Ungeduld erwachte und er verwies es ihr, gewiſſerma¬ ßen unfreundlich. Wollte man ſich doch ſol¬ che Unarten, wie ſo manches andre was der Geſellſchaft laͤſtig iſt, ein fuͤr allemal abge¬ woͤhnen. Wenn ich Jemand vorleſe, iſt es denn nicht als wenn ich ihm muͤndlich etwas vortruͤge? Das Geſchriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und wuͤrde ich mich wohl zu reden bemuͤhen, wenn ein Fenſterchen vor meiner Stirn, vor meiner Bruſt ange¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/78>, abgerufen am 27.11.2024.