Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬
stes- und Seelenverwandte vor. Auf eben
diese Weise können unter Menschen wahrhaft
bedeutende Freundschaften entstehen: denn ent¬
gegengesetzte Eigenschaften machen eine inni¬
gere Vereinigung möglich. Und so will ich
denn abwarten, was Sie mir von diesen ge¬
heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬
gen werden. Ich will dich -- sagte sie zu
Eduard gewendet -- jetzt im Vorlesen nicht
weiter stören, und um so viel besser unter¬
richtet, deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit
vernehmen.

Da du uns einmal aufgerufen hast, ver¬
setzte Eduard; so kommst du so leicht nicht
los: denn eigentlich sind die verwickelten
Fälle die interessantesten. Erst bey diesen
lernt man die Grade der Verwandtschaften,
die nähern, stärkern, entferntern, geringern
Beziehungen kennen; die Verwandtschaften
werden erst interessant, wenn sie Scheidun¬
gen bewirken.

6 *

ſowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬
ſtes- und Seelenverwandte vor. Auf eben
dieſe Weiſe koͤnnen unter Menſchen wahrhaft
bedeutende Freundſchaften entſtehen: denn ent¬
gegengeſetzte Eigenſchaften machen eine inni¬
gere Vereinigung moͤglich. Und ſo will ich
denn abwarten, was Sie mir von dieſen ge¬
heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬
gen werden. Ich will dich — ſagte ſie zu
Eduard gewendet — jetzt im Vorleſen nicht
weiter ſtoͤren, und um ſo viel beſſer unter¬
richtet, deinen Vortrag mit Aufmerkſamkeit
vernehmen.

Da du uns einmal aufgerufen haſt, ver¬
ſetzte Eduard; ſo kommſt du ſo leicht nicht
los: denn eigentlich ſind die verwickelten
Faͤlle die intereſſanteſten. Erſt bey dieſen
lernt man die Grade der Verwandtſchaften,
die naͤhern, ſtaͤrkern, entferntern, geringern
Beziehungen kennen; die Verwandtſchaften
werden erſt intereſſant, wenn ſie Scheidun¬
gen bewirken.

6 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0088" n="83"/>
&#x017F;owohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬<lb/>
&#x017F;tes- und Seelenverwandte vor. Auf eben<lb/>
die&#x017F;e Wei&#x017F;e ko&#x0364;nnen unter Men&#x017F;chen wahrhaft<lb/>
bedeutende Freund&#x017F;chaften ent&#x017F;tehen: denn ent¬<lb/>
gegenge&#x017F;etzte Eigen&#x017F;chaften machen eine inni¬<lb/>
gere Vereinigung mo&#x0364;glich. Und &#x017F;o will ich<lb/>
denn abwarten, was Sie mir von die&#x017F;en ge¬<lb/>
heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬<lb/>
gen werden. Ich will dich &#x2014; &#x017F;agte &#x017F;ie zu<lb/>
Eduard gewendet &#x2014; jetzt im Vorle&#x017F;en nicht<lb/>
weiter &#x017F;to&#x0364;ren, und um &#x017F;o viel be&#x017F;&#x017F;er unter¬<lb/>
richtet, deinen Vortrag mit Aufmerk&#x017F;amkeit<lb/>
vernehmen.</p><lb/>
        <p>Da du uns einmal aufgerufen ha&#x017F;t, ver¬<lb/>
&#x017F;etzte Eduard; &#x017F;o komm&#x017F;t du &#x017F;o leicht nicht<lb/>
los: denn eigentlich &#x017F;ind die verwickelten<lb/>
Fa&#x0364;lle die intere&#x017F;&#x017F;ante&#x017F;ten. Er&#x017F;t bey die&#x017F;en<lb/>
lernt man die Grade der Verwandt&#x017F;chaften,<lb/>
die na&#x0364;hern, &#x017F;ta&#x0364;rkern, entferntern, geringern<lb/>
Beziehungen kennen; die Verwandt&#x017F;chaften<lb/>
werden er&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;ant, wenn &#x017F;ie Scheidun¬<lb/>
gen bewirken.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">6 *<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0088] ſowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬ ſtes- und Seelenverwandte vor. Auf eben dieſe Weiſe koͤnnen unter Menſchen wahrhaft bedeutende Freundſchaften entſtehen: denn ent¬ gegengeſetzte Eigenſchaften machen eine inni¬ gere Vereinigung moͤglich. Und ſo will ich denn abwarten, was Sie mir von dieſen ge¬ heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬ gen werden. Ich will dich — ſagte ſie zu Eduard gewendet — jetzt im Vorleſen nicht weiter ſtoͤren, und um ſo viel beſſer unter¬ richtet, deinen Vortrag mit Aufmerkſamkeit vernehmen. Da du uns einmal aufgerufen haſt, ver¬ ſetzte Eduard; ſo kommſt du ſo leicht nicht los: denn eigentlich ſind die verwickelten Faͤlle die intereſſanteſten. Erſt bey dieſen lernt man die Grade der Verwandtſchaften, die naͤhern, ſtaͤrkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtſchaften werden erſt intereſſant, wenn ſie Scheidun¬ gen bewirken. 6 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/88
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/88>, abgerufen am 23.11.2024.