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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Glücklicherweise war das Kind in der an¬
muthigsten Stellung eingeschlafen, so daß
nichts die Betrachtung störte, wenn der
Blick auf der scheinbaren Mutter verweilte,
die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer
aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz
zu offenbaren. In diesem Augenblick schien
das Bild festgehalten und erstarrt zu seyn.
Physisch geblendet, geistig überrascht, schien
das umgebende Volk sich eben bewegt zu ha¬
ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden,
neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr
Verwunderung und Lust, als Bewunderung
und Verehrung anzuzeigen; obgleich diese auch
nicht vergessen und einigen ältern Figuren der
Ausdruck derselben übertragen war.

Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene,
Blick übertraf aber alles was je ein Maler
dargestellt hat. Der gefühlvolle Kenner,
der diese Erscheinung gesehen hätte, wäre
in Furcht gerathen, es möge sich nur irgend

Gluͤcklicherweiſe war das Kind in der an¬
muthigſten Stellung eingeſchlafen, ſo daß
nichts die Betrachtung ſtoͤrte, wenn der
Blick auf der ſcheinbaren Mutter verweilte,
die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer
aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz
zu offenbaren. In dieſem Augenblick ſchien
das Bild feſtgehalten und erſtarrt zu ſeyn.
Phyſiſch geblendet, geiſtig uͤberraſcht, ſchien
das umgebende Volk ſich eben bewegt zu ha¬
ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden,
neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr
Verwunderung und Luſt, als Bewunderung
und Verehrung anzuzeigen; obgleich dieſe auch
nicht vergeſſen und einigen aͤltern Figuren der
Ausdruck derſelben uͤbertragen war.

Ottiliens Geſtalt, Gebaͤrde, Miene,
Blick uͤbertraf aber alles was je ein Maler
dargeſtellt hat. Der gefuͤhlvolle Kenner,
der dieſe Erſcheinung geſehen haͤtte, waͤre
in Furcht gerathen, es moͤge ſich nur irgend

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[118/0121] Gluͤcklicherweiſe war das Kind in der an¬ muthigſten Stellung eingeſchlafen, ſo daß nichts die Betrachtung ſtoͤrte, wenn der Blick auf der ſcheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren. In dieſem Augenblick ſchien das Bild feſtgehalten und erſtarrt zu ſeyn. Phyſiſch geblendet, geiſtig uͤberraſcht, ſchien das umgebende Volk ſich eben bewegt zu ha¬ ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Luſt, als Bewunderung und Verehrung anzuzeigen; obgleich dieſe auch nicht vergeſſen und einigen aͤltern Figuren der Ausdruck derſelben uͤbertragen war. Ottiliens Geſtalt, Gebaͤrde, Miene, Blick uͤbertraf aber alles was je ein Maler dargeſtellt hat. Der gefuͤhlvolle Kenner, der dieſe Erſcheinung geſehen haͤtte, waͤre in Furcht gerathen, es moͤge ſich nur irgend

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/121>, abgerufen am 24.11.2024.