"Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so kurz scheint und so lang in der Erinnrung! Mir ist es mit dem vergangenen so, und nir¬ gends auffallender als im Garten, wie ver¬ gängliches und dauerndes in einander greift. Und doch ist nichts so flüchtig das nicht eine Spur, das nicht seines Gleichen zurücklasse."
"Man läßt sich den Winter auch gefallen. Man glaubt sich freyer auszubreiten, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man unge¬ duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegen drängt."
"Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes unvergleichbares werden. In manchen
II. 12
„Warum nur das Jahr manchmal ſo kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung! Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬ gends auffallender als im Garten, wie ver¬ gaͤngliches und dauerndes in einander greift. Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.“
„Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen. Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬ duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.“
„Alles Vollkommene in ſeiner Art muß uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas anderes unvergleichbares werden. In manchen
II. 12
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0180"n="177"/><p>„Warum nur das Jahr manchmal ſo<lb/>
kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo<lb/>
kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung!<lb/>
Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬<lb/>
gends auffallender als im Garten, wie ver¬<lb/>
gaͤngliches und dauerndes in einander greift.<lb/>
Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine<lb/>
Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.“</p><lb/><p>„Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen.<lb/>
Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn<lb/>
die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor<lb/>
uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken<lb/>
auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen<lb/>
und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬<lb/>
duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die<lb/>
Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich<lb/>
als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.“</p><lb/><p>„Alles Vollkommene in ſeiner Art muß<lb/>
uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas<lb/>
anderes unvergleichbares werden. In manchen<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">II</hi>. 12<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[177/0180]
„Warum nur das Jahr manchmal ſo
kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo
kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung!
Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬
gends auffallender als im Garten, wie ver¬
gaͤngliches und dauerndes in einander greift.
Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine
Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.“
„Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen.
Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn
die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor
uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken
auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen
und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬
duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die
Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich
als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.“
„Alles Vollkommene in ſeiner Art muß
uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas
anderes unvergleichbares werden. In manchen
II. 12
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/180>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.