Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen und zu wollen, versetzte Charlotte, dieß Ge¬ spräch ganz zu meinen Gunsten gelenkt. Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall wo es steht, steht es für sich und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabstätte bezeichne. Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬ dung bekennen, selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung: denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiede¬ nes und erinnern mich, wie schwer es sey, die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man, wie viel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zu Mu¬ the ! Wir begegnen dem Geistreichen ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
II. 2
Sie haben, ohne es vielleicht zu wiſſen und zu wollen, verſetzte Charlotte, dieß Ge¬ ſpraͤch ganz zu meinen Gunſten gelenkt. Das Bild eines Menſchen iſt doch wohl unabhaͤngig; uͤberall wo es ſteht, ſteht es fuͤr ſich und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabſtaͤtte bezeichne. Aber ſoll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬ dung bekennen, ſelbſt gegen die Bildniſſe habe ich eine Art von Abneigung: denn ſie ſcheinen mir immer einen ſtillen Vorwurf zu machen; ſie deuten auf etwas Entferntes, Abgeſchiede¬ nes und erinnern mich, wie ſchwer es ſey, die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man, wie viel Menſchen man geſehen, gekannt, und geſteht ſich, wie wenig wir ihnen, wie wenig ſie uns geweſen, wie wird uns da zu Mu¬ the ! Wir begegnen dem Geiſtreichen ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten ohne von ihm zu lernen, dem Gereiſten ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
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[17/0020]
Sie haben, ohne es vielleicht zu wiſſen
und zu wollen, verſetzte Charlotte, dieß Ge¬
ſpraͤch ganz zu meinen Gunſten gelenkt.
Das Bild eines Menſchen iſt doch wohl
unabhaͤngig; uͤberall wo es ſteht, ſteht es fuͤr
ſich und wir werden von ihm nicht verlangen,
daß es die eigentliche Grabſtaͤtte bezeichne.
Aber ſoll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬
dung bekennen, ſelbſt gegen die Bildniſſe habe
ich eine Art von Abneigung: denn ſie ſcheinen
mir immer einen ſtillen Vorwurf zu machen;
ſie deuten auf etwas Entferntes, Abgeſchiede¬
nes und erinnern mich, wie ſchwer es ſey,
die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man,
wie viel Menſchen man geſehen, gekannt, und
geſteht ſich, wie wenig wir ihnen, wie wenig
ſie uns geweſen, wie wird uns da zu Mu¬
the ! Wir begegnen dem Geiſtreichen ohne
uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten
ohne von ihm zu lernen, dem Gereiſten
ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen
ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/20>, abgerufen am 24.11.2024.
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