Zum zweytenmal -- so begann das herr¬ liche Kind mit einem unüberwindlichen anmu¬ thigen Ernst -- zum zweytenmal widerfährt mir dasselbige. Du sagtest mir einst: es be¬ gegne den Menschen in ihrem Leben oft Aehn¬ liches auf ähnliche Weise, und immer in be¬ deutenden Augenblicken. Ich finde nun die Bemerkung wahr, und bin gedrungen dir ein Bekenntniß zu machen. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemmel an dich gerückt; du saßest auf dem Sopha wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte. Ich vernahm alles was um mich vorging, besonders alle Reden, sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern, und wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst mich bewußt fühlte. Damals sprachst du mit einer Freundinn über mich; du be¬ dauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu seyn; du schildertest
Zum zweytenmal — ſo begann das herr¬ liche Kind mit einem unuͤberwindlichen anmu¬ thigen Ernſt — zum zweytenmal widerfaͤhrt mir daſſelbige. Du ſagteſt mir einſt: es be¬ gegne den Menſchen in ihrem Leben oft Aehn¬ liches auf aͤhnliche Weiſe, und immer in be¬ deutenden Augenblicken. Ich finde nun die Bemerkung wahr, und bin gedrungen dir ein Bekenntniß zu machen. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemmel an dich geruͤckt; du ſaßeſt auf dem Sopha wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich ſchlief nicht, ich wachte nicht; ich ſchlummerte. Ich vernahm alles was um mich vorging, beſonders alle Reden, ſehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht aͤußern, und wenn ich auch gewollt haͤtte, nicht andeuten, daß ich meiner ſelbſt mich bewußt fuͤhlte. Damals ſprachſt du mit einer Freundinn uͤber mich; du be¬ dauerteſt mein Schickſal, als eine arme Waiſe in der Welt geblieben zu ſeyn; du ſchilderteſt
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Zum zweytenmal — ſo begann das herr¬
liche Kind mit einem unuͤberwindlichen anmu¬
thigen Ernſt — zum zweytenmal widerfaͤhrt
mir daſſelbige. Du ſagteſt mir einſt: es be¬
gegne den Menſchen in ihrem Leben oft Aehn¬
liches auf aͤhnliche Weiſe, und immer in be¬
deutenden Augenblicken. Ich finde nun die
Bemerkung wahr, und bin gedrungen dir ein
Bekenntniß zu machen. Kurz nach meiner
Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich
meinen Schemmel an dich geruͤckt; du ſaßeſt
auf dem Sopha wie jetzt; mein Haupt lag auf
deinen Knieen, ich ſchlief nicht, ich wachte
nicht; ich ſchlummerte. Ich vernahm alles
was um mich vorging, beſonders alle Reden,
ſehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht
regen, mich nicht aͤußern, und wenn ich auch
gewollt haͤtte, nicht andeuten, daß ich meiner
ſelbſt mich bewußt fuͤhlte. Damals ſprachſt
du mit einer Freundinn uͤber mich; du be¬
dauerteſt mein Schickſal, als eine arme Waiſe
in der Welt geblieben zu ſeyn; du ſchilderteſt
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/270>, abgerufen am 24.11.2024.
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