Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



folgten, die Unordnung ward allgemein, und die
Musik hörte auf. Es ist natürlich, wenn uns ein
Unglük oder etwas schrökliches im Vergnügen über-
rascht, daß es stärkere Eindrükke auf uns macht, als
sonst, theils wegen dem Gegensazze, der sich so leb-
haft empfinden läßt, theils und noch mehr, weil un-
sere Sinnen einmal der Fühlbarkeit geöffnet sind
und also desto schneller einen Eindruk annehmen.
Diesen Ursachen muß ich die wunderbaren Grimas-
sen zuschreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer
ausbrechen sah. Die Klügste sezte sich in eine
Ekke, mit dem Rüken gegen das Fenster, und hielt
die Ohren zu, eine andere kniete sich vor ihr nie-
der und verbarg den Kopf in der ersten Schoos, ei-
ne dritte schob sich zwischen beyde hinein, und um-
faßte ihre Schwesterchen mit tausend Thränen. Ei-
nige wollten nach Hause, andere, die noch weniger
wußten was sie thaten, hatten nicht so viel Besin-
nungskraft, den Kekheiten unserer jungen Schluk-
kers zu steuern, die sehr beschäftigt zu seyn schie-
nen, alle die ängstlichen Gebete, die dem Himmel
bestimmt waren, von den Lippen der schönen Be-
drängten wegzufangen. Einige unserer Herren hat-

ten
C 5



folgten, die Unordnung ward allgemein, und die
Muſik hoͤrte auf. Es iſt natuͤrlich, wenn uns ein
Ungluͤk oder etwas ſchroͤkliches im Vergnuͤgen uͤber-
raſcht, daß es ſtaͤrkere Eindruͤkke auf uns macht, als
ſonſt, theils wegen dem Gegenſazze, der ſich ſo leb-
haft empfinden laͤßt, theils und noch mehr, weil un-
ſere Sinnen einmal der Fuͤhlbarkeit geoͤffnet ſind
und alſo deſto ſchneller einen Eindruk annehmen.
Dieſen Urſachen muß ich die wunderbaren Grimaſ-
ſen zuſchreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer
ausbrechen ſah. Die Kluͤgſte ſezte ſich in eine
Ekke, mit dem Ruͤken gegen das Fenſter, und hielt
die Ohren zu, eine andere kniete ſich vor ihr nie-
der und verbarg den Kopf in der erſten Schoos, ei-
ne dritte ſchob ſich zwiſchen beyde hinein, und um-
faßte ihre Schweſterchen mit tauſend Thraͤnen. Ei-
nige wollten nach Hauſe, andere, die noch weniger
wußten was ſie thaten, hatten nicht ſo viel Beſin-
nungskraft, den Kekheiten unſerer jungen Schluk-
kers zu ſteuern, die ſehr beſchaͤftigt zu ſeyn ſchie-
nen, alle die aͤngſtlichen Gebete, die dem Himmel
beſtimmt waren, von den Lippen der ſchoͤnen Be-
draͤngten wegzufangen. Einige unſerer Herren hat-

ten
C 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0041" n="41"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
folgten, die Unordnung ward allgemein, und die<lb/>
Mu&#x017F;ik ho&#x0364;rte auf. Es i&#x017F;t natu&#x0364;rlich, wenn uns ein<lb/>
Unglu&#x0364;k oder etwas &#x017F;chro&#x0364;kliches im Vergnu&#x0364;gen u&#x0364;ber-<lb/>
ra&#x017F;cht, daß es &#x017F;ta&#x0364;rkere Eindru&#x0364;kke auf uns macht, als<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t, theils wegen dem Gegen&#x017F;azze, der &#x017F;ich &#x017F;o leb-<lb/>
haft empfinden la&#x0364;ßt, theils und noch mehr, weil un-<lb/>
&#x017F;ere Sinnen einmal der Fu&#x0364;hlbarkeit geo&#x0364;ffnet &#x017F;ind<lb/>
und al&#x017F;o de&#x017F;to &#x017F;chneller einen Eindruk annehmen.<lb/>
Die&#x017F;en Ur&#x017F;achen muß ich die wunderbaren Grima&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en zu&#x017F;chreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer<lb/>
ausbrechen &#x017F;ah. Die Klu&#x0364;g&#x017F;te &#x017F;ezte &#x017F;ich in eine<lb/>
Ekke, mit dem Ru&#x0364;ken gegen das Fen&#x017F;ter, und hielt<lb/>
die Ohren zu, eine andere kniete &#x017F;ich vor ihr nie-<lb/>
der und verbarg den Kopf in der er&#x017F;ten Schoos, ei-<lb/>
ne dritte &#x017F;chob &#x017F;ich zwi&#x017F;chen beyde hinein, und um-<lb/>
faßte ihre Schwe&#x017F;terchen mit tau&#x017F;end Thra&#x0364;nen. Ei-<lb/>
nige wollten nach Hau&#x017F;e, andere, die noch weniger<lb/>
wußten was &#x017F;ie thaten, hatten nicht &#x017F;o viel Be&#x017F;in-<lb/>
nungskraft, den Kekheiten un&#x017F;erer jungen Schluk-<lb/>
kers zu &#x017F;teuern, die &#x017F;ehr be&#x017F;cha&#x0364;ftigt zu &#x017F;eyn &#x017F;chie-<lb/>
nen, alle die a&#x0364;ng&#x017F;tlichen Gebete, die dem Himmel<lb/>
be&#x017F;timmt waren, von den Lippen der &#x017F;cho&#x0364;nen Be-<lb/>
dra&#x0364;ngten wegzufangen. Einige un&#x017F;erer Herren hat-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0041] folgten, die Unordnung ward allgemein, und die Muſik hoͤrte auf. Es iſt natuͤrlich, wenn uns ein Ungluͤk oder etwas ſchroͤkliches im Vergnuͤgen uͤber- raſcht, daß es ſtaͤrkere Eindruͤkke auf uns macht, als ſonſt, theils wegen dem Gegenſazze, der ſich ſo leb- haft empfinden laͤßt, theils und noch mehr, weil un- ſere Sinnen einmal der Fuͤhlbarkeit geoͤffnet ſind und alſo deſto ſchneller einen Eindruk annehmen. Dieſen Urſachen muß ich die wunderbaren Grimaſ- ſen zuſchreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen ſah. Die Kluͤgſte ſezte ſich in eine Ekke, mit dem Ruͤken gegen das Fenſter, und hielt die Ohren zu, eine andere kniete ſich vor ihr nie- der und verbarg den Kopf in der erſten Schoos, ei- ne dritte ſchob ſich zwiſchen beyde hinein, und um- faßte ihre Schweſterchen mit tauſend Thraͤnen. Ei- nige wollten nach Hauſe, andere, die noch weniger wußten was ſie thaten, hatten nicht ſo viel Beſin- nungskraft, den Kekheiten unſerer jungen Schluk- kers zu ſteuern, die ſehr beſchaͤftigt zu ſeyn ſchie- nen, alle die aͤngſtlichen Gebete, die dem Himmel beſtimmt waren, von den Lippen der ſchoͤnen Be- draͤngten wegzufangen. Einige unſerer Herren hat- ten C 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/41
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/41>, abgerufen am 23.11.2024.