Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



es an mir, wenn mich etwas nekt, und mich ver-
drüßlich machen will, spring ich auf und sing ein
paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich
ist's weg. -- Das war's was ich sagen wollte,
vorsezte ich, es ist mit der üblen Laune völlig wie
mit der Trägheit, denn es ist eine Art von Träg-
heit, unsere Natur hängt sehr dahin, und doch, wenn
wir nur einmal die Kraft haben uns zu erman-
nen, geht uns die Arbeit frisch von der Hand,
und wir finden in der Thätigkeit ein wahres Ver-
gnügen. Friederike war sehr aufmerksam, und der
junge Mensch wandte mir ein, daß man nicht Herr
über sich selbst sey, und am wenigsten über seine
Empfindungen gebieten könne. Es ist hier die Fra-
ge von einer unangenehmen Empfindung, versezt
ich, die doch jedermann gern los ist, und niemand
weis wie weit seine Kräfte gehn, bis er sie ver-
sucht hat. Gewiß, einer der krank ist, wird bey
allen Aerzten herum fragen und die größten Re-
signationen, die bittersten Arzneyen, wird er nicht
abweisen um seine gewünschte Gesundheit zu er-
halten. Jch bemerkte, daß der ehrliche Alte sein
Gehör anstrengte um an unserm Diskurs Theil

zu
D 4



es an mir, wenn mich etwas nekt, und mich ver-
druͤßlich machen will, ſpring ich auf und ſing ein
paar Contretaͤnze den Garten auf und ab, gleich
iſt’s weg. — Das war’s was ich ſagen wollte,
vorſezte ich, es iſt mit der uͤblen Laune voͤllig wie
mit der Traͤgheit, denn es iſt eine Art von Traͤg-
heit, unſere Natur haͤngt ſehr dahin, und doch, wenn
wir nur einmal die Kraft haben uns zu erman-
nen, geht uns die Arbeit friſch von der Hand,
und wir finden in der Thaͤtigkeit ein wahres Ver-
gnuͤgen. Friederike war ſehr aufmerkſam, und der
junge Menſch wandte mir ein, daß man nicht Herr
uͤber ſich ſelbſt ſey, und am wenigſten uͤber ſeine
Empfindungen gebieten koͤnne. Es iſt hier die Fra-
ge von einer unangenehmen Empfindung, verſezt
ich, die doch jedermann gern los iſt, und niemand
weis wie weit ſeine Kraͤfte gehn, bis er ſie ver-
ſucht hat. Gewiß, einer der krank iſt, wird bey
allen Aerzten herum fragen und die groͤßten Re-
ſignationen, die bitterſten Arzneyen, wird er nicht
abweiſen um ſeine gewuͤnſchte Geſundheit zu er-
halten. Jch bemerkte, daß der ehrliche Alte ſein
Gehoͤr anſtrengte um an unſerm Diskurs Theil

zu
D 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0055" n="55"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
es an mir, wenn mich etwas nekt, und mich ver-<lb/>
dru&#x0364;ßlich machen will, &#x017F;pring ich auf und &#x017F;ing ein<lb/>
paar Contreta&#x0364;nze den Garten auf und ab, gleich<lb/>
i&#x017F;t&#x2019;s weg. &#x2014; Das war&#x2019;s was ich &#x017F;agen wollte,<lb/>
vor&#x017F;ezte ich, es i&#x017F;t mit der u&#x0364;blen Laune vo&#x0364;llig wie<lb/>
mit der Tra&#x0364;gheit, denn es i&#x017F;t eine Art von Tra&#x0364;g-<lb/>
heit, un&#x017F;ere Natur ha&#x0364;ngt &#x017F;ehr dahin, und doch, wenn<lb/>
wir nur einmal die Kraft haben uns zu erman-<lb/>
nen, geht uns die Arbeit fri&#x017F;ch von der Hand,<lb/>
und wir finden in der Tha&#x0364;tigkeit ein wahres Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen. Friederike war &#x017F;ehr aufmerk&#x017F;am, und der<lb/>
junge Men&#x017F;ch wandte mir ein, daß man nicht Herr<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ey, und am wenig&#x017F;ten u&#x0364;ber &#x017F;eine<lb/>
Empfindungen gebieten ko&#x0364;nne. Es i&#x017F;t hier die Fra-<lb/>
ge von einer unangenehmen Empfindung, ver&#x017F;ezt<lb/>
ich, die doch jedermann gern los i&#x017F;t, und niemand<lb/>
weis wie weit &#x017F;eine Kra&#x0364;fte gehn, bis er &#x017F;ie ver-<lb/>
&#x017F;ucht hat. Gewiß, einer der krank i&#x017F;t, wird bey<lb/>
allen Aerzten herum fragen und die gro&#x0364;ßten Re-<lb/>
&#x017F;ignationen, die bitter&#x017F;ten Arzneyen, wird er nicht<lb/>
abwei&#x017F;en um &#x017F;eine gewu&#x0364;n&#x017F;chte Ge&#x017F;undheit zu er-<lb/>
halten. Jch bemerkte, daß der ehrliche Alte &#x017F;ein<lb/>
Geho&#x0364;r an&#x017F;trengte um an un&#x017F;erm Diskurs Theil<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 4</fw><fw place="bottom" type="catch">zu</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0055] es an mir, wenn mich etwas nekt, und mich ver- druͤßlich machen will, ſpring ich auf und ſing ein paar Contretaͤnze den Garten auf und ab, gleich iſt’s weg. — Das war’s was ich ſagen wollte, vorſezte ich, es iſt mit der uͤblen Laune voͤllig wie mit der Traͤgheit, denn es iſt eine Art von Traͤg- heit, unſere Natur haͤngt ſehr dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben uns zu erman- nen, geht uns die Arbeit friſch von der Hand, und wir finden in der Thaͤtigkeit ein wahres Ver- gnuͤgen. Friederike war ſehr aufmerkſam, und der junge Menſch wandte mir ein, daß man nicht Herr uͤber ſich ſelbſt ſey, und am wenigſten uͤber ſeine Empfindungen gebieten koͤnne. Es iſt hier die Fra- ge von einer unangenehmen Empfindung, verſezt ich, die doch jedermann gern los iſt, und niemand weis wie weit ſeine Kraͤfte gehn, bis er ſie ver- ſucht hat. Gewiß, einer der krank iſt, wird bey allen Aerzten herum fragen und die groͤßten Re- ſignationen, die bitterſten Arzneyen, wird er nicht abweiſen um ſeine gewuͤnſchte Geſundheit zu er- halten. Jch bemerkte, daß der ehrliche Alte ſein Gehoͤr anſtrengte um an unſerm Diskurs Theil zu D 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/55
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/55>, abgerufen am 04.12.2024.