Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.immer eifrig fort wusch, als wenn Viel mehr thäte als Wenig. Jch sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beygewohnt, und als Lotte herauf kam, hätte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat. Des Abends konnt ich nicht umhin, in der am
immer eifrig fort wuſch, als wenn Viel mehr thaͤte als Wenig. Jch ſage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Reſpekt nie einer Taufhandlung beygewohnt, und als Lotte herauf kam, haͤtte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat. Des Abends konnt ich nicht umhin, in der am
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immer eifrig fort wuſch, als wenn Viel mehr thaͤte
als Wenig. Jch ſage dir, Wilhelm, ich habe mit
mehr Reſpekt nie einer Taufhandlung beygewohnt,
und als Lotte herauf kam, haͤtte ich mich gern vor
ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der
die Schulden einer Nation weggeweiht hat.
Des Abends konnt ich nicht umhin, in der
Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne
zu erzaͤhlen, dem ich Menſchenſinn zutraute, weil
er Verſtand hat. Aber wie kam ich an. Er ſagte,
das waͤre ſehr uͤbel von Lotten geweſen, man ſolle
die Kinder nichts weis machen, dergleichen gaͤbe zu
unzaͤhlichen Jrrthuͤmern und Aberglauben Anlaß,
man muͤßte die Kinder fruͤhzeitig davor bewahren.
Nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen
hatte taufen laſſen, drum ließ ich’s vorbey gehn,
und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu:
wir ſollen es mit den Kindern machen, wie Gott mit
uns, der uns am gluͤklichſten macht, wenn er uns
im freundlichen Wahne ſo hintaumeln laͤßt.
am
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