Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite





Wilhelm, was ist unserm Herzen die Welt ohne
Liebe! Was eine Zauberlaterne ist, ohne
Licht! Kaum bringst Du das Lämpgen hinein,
so scheinen Dir die buntesten Bilder an deine weiße
Wand! Und wenn's nichts wäre als das, als vor
übergehende Phantomen, so machts doch immer
unser Glük, wenn wir wie frische Bubens davor
stehen und uns über die Wundererscheinungen ent-
zükken. Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine un-
vermeidliche Gesellschaft hielt mich ab. Was war
zu thun. Jch schikte meinen Buben hinaus, nur
um einen Menschen um mich zu haben, der ihr
heute nahe gekommen wäre. Mit welcher Unge-
dult ich den Buben erwartete, mit welcher Freude
ich ihn wieder sah. Jch hätt' ihn gern bey'm Kopf
genommen und geküßt, wenn ich mich nicht ge-
schämt hätte.

Man erzählt von dem Bononischen Stein, daß
er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strah-
len anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet. So
war mir's mit dem Jungen. Das Gefühl, daß

ihre





Wilhelm, was iſt unſerm Herzen die Welt ohne
Liebe! Was eine Zauberlaterne iſt, ohne
Licht! Kaum bringſt Du das Laͤmpgen hinein,
ſo ſcheinen Dir die bunteſten Bilder an deine weiße
Wand! Und wenn’s nichts waͤre als das, als vor
uͤbergehende Phantomen, ſo machts doch immer
unſer Gluͤk, wenn wir wie friſche Bubens davor
ſtehen und uns uͤber die Wundererſcheinungen ent-
zuͤkken. Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine un-
vermeidliche Geſellſchaft hielt mich ab. Was war
zu thun. Jch ſchikte meinen Buben hinaus, nur
um einen Menſchen um mich zu haben, der ihr
heute nahe gekommen waͤre. Mit welcher Unge-
dult ich den Buben erwartete, mit welcher Freude
ich ihn wieder ſah. Jch haͤtt’ ihn gern bey’m Kopf
genommen und gekuͤßt, wenn ich mich nicht ge-
ſchaͤmt haͤtte.

Man erzaͤhlt von dem Bononiſchen Stein, daß
er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strah-
len anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet. So
war mir’s mit dem Jungen. Das Gefuͤhl, daß

ihre
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <pb facs="#f0068" n="68"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      </div>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div type="diaryEntry">
        <dateline> <hi rendition="#et">am 18. Juli.</hi> </dateline><lb/>
        <p><hi rendition="#in">W</hi>ilhelm, was i&#x017F;t un&#x017F;erm Herzen die Welt ohne<lb/>
Liebe! Was eine Zauberlaterne i&#x017F;t, ohne<lb/>
Licht! Kaum bring&#x017F;t Du das La&#x0364;mpgen hinein,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;cheinen Dir die bunte&#x017F;ten Bilder an deine weiße<lb/>
Wand! Und wenn&#x2019;s nichts wa&#x0364;re als das, als vor<lb/>
u&#x0364;bergehende Phantomen, &#x017F;o machts doch immer<lb/>
un&#x017F;er Glu&#x0364;k, wenn wir wie fri&#x017F;che Bubens davor<lb/>
&#x017F;tehen und uns u&#x0364;ber die Wunderer&#x017F;cheinungen ent-<lb/>
zu&#x0364;kken. Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine un-<lb/>
vermeidliche Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hielt mich ab. Was war<lb/>
zu thun. Jch &#x017F;chikte meinen Buben hinaus, nur<lb/>
um einen Men&#x017F;chen um mich zu haben, der ihr<lb/>
heute nahe gekommen wa&#x0364;re. Mit welcher Unge-<lb/>
dult ich den Buben erwartete, mit welcher Freude<lb/>
ich ihn wieder &#x017F;ah. Jch ha&#x0364;tt&#x2019; ihn gern bey&#x2019;m Kopf<lb/>
genommen und geku&#x0364;ßt, wenn ich mich nicht ge-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;mt ha&#x0364;tte.</p><lb/>
        <p>Man erza&#x0364;hlt von dem Bononi&#x017F;chen Stein, daß<lb/>
er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strah-<lb/>
len anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet. So<lb/>
war mir&#x2019;s mit dem Jungen. Das Gefu&#x0364;hl, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihre</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0068] am 18. Juli. Wilhelm, was iſt unſerm Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne iſt, ohne Licht! Kaum bringſt Du das Laͤmpgen hinein, ſo ſcheinen Dir die bunteſten Bilder an deine weiße Wand! Und wenn’s nichts waͤre als das, als vor uͤbergehende Phantomen, ſo machts doch immer unſer Gluͤk, wenn wir wie friſche Bubens davor ſtehen und uns uͤber die Wundererſcheinungen ent- zuͤkken. Heut konnt ich nicht zu Lotten, eine un- vermeidliche Geſellſchaft hielt mich ab. Was war zu thun. Jch ſchikte meinen Buben hinaus, nur um einen Menſchen um mich zu haben, der ihr heute nahe gekommen waͤre. Mit welcher Unge- dult ich den Buben erwartete, mit welcher Freude ich ihn wieder ſah. Jch haͤtt’ ihn gern bey’m Kopf genommen und gekuͤßt, wenn ich mich nicht ge- ſchaͤmt haͤtte. Man erzaͤhlt von dem Bononiſchen Stein, daß er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strah- len anzieht und eine Weile bey Nacht leuchtet. So war mir’s mit dem Jungen. Das Gefuͤhl, daß ihre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/68
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/68>, abgerufen am 04.12.2024.