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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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such sie durchzutreiben, suche die Erfüllung deiner
Wünsche zu umfassen, im andern Falle ermanne
dich und suche einer elenden Empfindung los zu
werden, die all deine Kräfte verzehren muß. Be-
ster, das ist wohl gesagt, und -- bald gesagt.

Und kannst du von dem Unglüklichen, dessen
Leben unter einer schleichenden Krankheit unauf-
haltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm ver-
langen, er solle durch einen Dolchstos der Quaal
auf einmal ein Ende machen? Und raubt das
Uebel, das ihm die Kräfte wegzehrt, ihm nicht
auch zugleich den Muth, sich davon zu befreyen?

Zwar könntest du mir mit einem verwand-
ten Gleichnisse antworten: Wer liesse sich nicht
lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zau-
dern und Zagen sein Leben auf's Spiel sezte --
Jch weis nicht -- und wir wollen uns nicht in
Gleichnissen herumbeissen. Genug -- Ja, Wil-
helm ich habe manchmal so einen Augenblik auf-
springenden, abschüttelnden Muths, und da, wenn
ich nur wüste wohin, ich gienge wohl.

am



ſuch ſie durchzutreiben, ſuche die Erfuͤllung deiner
Wuͤnſche zu umfaſſen, im andern Falle ermanne
dich und ſuche einer elenden Empfindung los zu
werden, die all deine Kraͤfte verzehren muß. Be-
ſter, das iſt wohl geſagt, und — bald geſagt.

Und kannſt du von dem Ungluͤklichen, deſſen
Leben unter einer ſchleichenden Krankheit unauf-
haltſam allmaͤhlich abſtirbt, kannſt du von ihm ver-
langen, er ſolle durch einen Dolchſtos der Quaal
auf einmal ein Ende machen? Und raubt das
Uebel, das ihm die Kraͤfte wegzehrt, ihm nicht
auch zugleich den Muth, ſich davon zu befreyen?

Zwar koͤnnteſt du mir mit einem verwand-
ten Gleichniſſe antworten: Wer lieſſe ſich nicht
lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zau-
dern und Zagen ſein Leben auf’s Spiel ſezte —
Jch weis nicht — und wir wollen uns nicht in
Gleichniſſen herumbeiſſen. Genug — Ja, Wil-
helm ich habe manchmal ſo einen Augenblik auf-
ſpringenden, abſchuͤttelnden Muths, und da, wenn
ich nur wuͤſte wohin, ich gienge wohl.

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[76/0076] ſuch ſie durchzutreiben, ſuche die Erfuͤllung deiner Wuͤnſche zu umfaſſen, im andern Falle ermanne dich und ſuche einer elenden Empfindung los zu werden, die all deine Kraͤfte verzehren muß. Be- ſter, das iſt wohl geſagt, und — bald geſagt. Und kannſt du von dem Ungluͤklichen, deſſen Leben unter einer ſchleichenden Krankheit unauf- haltſam allmaͤhlich abſtirbt, kannſt du von ihm ver- langen, er ſolle durch einen Dolchſtos der Quaal auf einmal ein Ende machen? Und raubt das Uebel, das ihm die Kraͤfte wegzehrt, ihm nicht auch zugleich den Muth, ſich davon zu befreyen? Zwar koͤnnteſt du mir mit einem verwand- ten Gleichniſſe antworten: Wer lieſſe ſich nicht lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zau- dern und Zagen ſein Leben auf’s Spiel ſezte — Jch weis nicht — und wir wollen uns nicht in Gleichniſſen herumbeiſſen. Genug — Ja, Wil- helm ich habe manchmal ſo einen Augenblik auf- ſpringenden, abſchuͤttelnden Muths, und da, wenn ich nur wuͤſte wohin, ich gienge wohl. am

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/76>, abgerufen am 04.12.2024.