Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



ther sind als jene blendende Geschenke, wodurch uns
die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Jch küsse diese
Schleife tausendmal, und mit jedem Athemzuge
schlürfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein,
mit denen mich jene wenige, glückliche, unwieder-
bringliche Tage überfüllten. Wilhelm es ist so, und
ich murre nicht, die Blüthen des Lebens sind nur
Erscheinungen! wie viele gehn vorüber, ohne eine
Spur hinter sich zu lassen, wie wenige sezzen Frucht
an, und wie wenige dieser Früchte werden reif.
Und doch sind deren noch genug da, und doch --
O mein Bruder! können wir gereifte Früchte ver-
nachlässigen, verachten, ungenossen verwelken und
verfaulen lassen?

Lebe wohl! Es ist ein herrlicher Sommer, ich
sizze oft auf den Obstbäumen in Lottens Baumstük
mit dem Obstbrecher der langen Stange, und hole
die Birn aus dem Gipfel. Sie steht unten und
nimmt sie ab, wenn ich sie ihr hinunter lasse.

am
G 2



ther ſind als jene blendende Geſchenke, wodurch uns
die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Jch kuͤſſe dieſe
Schleife tauſendmal, und mit jedem Athemzuge
ſchluͤrfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein,
mit denen mich jene wenige, gluͤckliche, unwieder-
bringliche Tage uͤberfuͤllten. Wilhelm es iſt ſo, und
ich murre nicht, die Bluͤthen des Lebens ſind nur
Erſcheinungen! wie viele gehn voruͤber, ohne eine
Spur hinter ſich zu laſſen, wie wenige ſezzen Frucht
an, und wie wenige dieſer Fruͤchte werden reif.
Und doch ſind deren noch genug da, und doch —
O mein Bruder! koͤnnen wir gereifte Fruͤchte ver-
nachlaͤſſigen, verachten, ungenoſſen verwelken und
verfaulen laſſen?

Lebe wohl! Es iſt ein herrlicher Sommer, ich
ſizze oft auf den Obſtbaͤumen in Lottens Baumſtuͤk
mit dem Obſtbrecher der langen Stange, und hole
die Birn aus dem Gipfel. Sie ſteht unten und
nimmt ſie ab, wenn ich ſie ihr hinunter laſſe.

am
G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0099" n="99"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ther &#x017F;ind als jene blendende Ge&#x017F;chenke, wodurch uns<lb/>
die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Jch ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;e<lb/>
Schleife tau&#x017F;endmal, und mit jedem Athemzuge<lb/>
&#x017F;chlu&#x0364;rfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein,<lb/>
mit denen mich jene wenige, glu&#x0364;ckliche, unwieder-<lb/>
bringliche Tage u&#x0364;berfu&#x0364;llten. Wilhelm es i&#x017F;t &#x017F;o, und<lb/>
ich murre nicht, die Blu&#x0364;then des Lebens &#x017F;ind nur<lb/>
Er&#x017F;cheinungen! wie viele gehn voru&#x0364;ber, ohne eine<lb/>
Spur hinter &#x017F;ich zu la&#x017F;&#x017F;en, wie wenige &#x017F;ezzen Frucht<lb/>
an, und wie wenige die&#x017F;er Fru&#x0364;chte werden reif.<lb/>
Und doch &#x017F;ind deren noch genug da, und doch &#x2014;<lb/>
O mein Bruder! ko&#x0364;nnen wir gereifte Fru&#x0364;chte ver-<lb/>
nachla&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen, verachten, ungeno&#x017F;&#x017F;en verwelken und<lb/>
verfaulen la&#x017F;&#x017F;en?</p><lb/>
        <p>Lebe wohl! Es i&#x017F;t ein herrlicher Sommer, ich<lb/>
&#x017F;izze oft auf den Ob&#x017F;tba&#x0364;umen in Lottens Baum&#x017F;tu&#x0364;k<lb/>
mit dem Ob&#x017F;tbrecher der langen Stange, und hole<lb/>
die Birn aus dem Gipfel. Sie &#x017F;teht unten und<lb/>
nimmt &#x017F;ie ab, wenn ich &#x017F;ie ihr hinunter la&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">G 2</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">am</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0099] ther ſind als jene blendende Geſchenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Jch kuͤſſe dieſe Schleife tauſendmal, und mit jedem Athemzuge ſchluͤrfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenige, gluͤckliche, unwieder- bringliche Tage uͤberfuͤllten. Wilhelm es iſt ſo, und ich murre nicht, die Bluͤthen des Lebens ſind nur Erſcheinungen! wie viele gehn voruͤber, ohne eine Spur hinter ſich zu laſſen, wie wenige ſezzen Frucht an, und wie wenige dieſer Fruͤchte werden reif. Und doch ſind deren noch genug da, und doch — O mein Bruder! koͤnnen wir gereifte Fruͤchte ver- nachlaͤſſigen, verachten, ungenoſſen verwelken und verfaulen laſſen? Lebe wohl! Es iſt ein herrlicher Sommer, ich ſizze oft auf den Obſtbaͤumen in Lottens Baumſtuͤk mit dem Obſtbrecher der langen Stange, und hole die Birn aus dem Gipfel. Sie ſteht unten und nimmt ſie ab, wenn ich ſie ihr hinunter laſſe. am G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/99
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/99>, abgerufen am 04.12.2024.