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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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indem ihr die Thränen in den Augen stunden.
Jch war nicht Herr mehr von mir selbst, war im
Begriff, mich ihr zu Füssen zu werfen. Erklären
sie sich, ruft ich: Die Thränen liefen ihr die
Wangen herunter, ich war ausser mir. Sie trok-
nete sie ab, ohne sie verbergen zu wollen. Mei-
ne Tante kennen sie, fieng sie an; sie war gegen-
wärtig, und hat, o mit was für Augen hat sie
das angesehn. Werther, ich habe gestern Nacht
ausgestanden, und heute früh eine Predigt über
meinen Umgang mit Jhnen, und ich habe müssen
zuhören Sie herabsezzen, erniedrigen, und konn-
te und durfte Sie nur halb vertheidigen.

Jedes Wort, das sie sprach, gieng mir wie
Schwerder durch's Herz. Sie fühlte nicht, welche
Barmherzigkeit es gewesen wäre, mir das alles zu
verschweigen, und nun fügte sie noch all dazu, was
weiter würde geträtscht werden, was die schlechten
Kerls alle darüber triumphiren würden. Wie
man nunmehro meinen Uebermuth und Gering-
schäzzung andrer, das sie mir schon lange vorwer-
fen, gestraft, erniedrigt ausschreien würde. Das
alles, Wilhelm, von ihr zu hören, mit der Stimme

der
J 4



indem ihr die Thraͤnen in den Augen ſtunden.
Jch war nicht Herr mehr von mir ſelbſt, war im
Begriff, mich ihr zu Fuͤſſen zu werfen. Erklaͤren
ſie ſich, ruft ich: Die Thraͤnen liefen ihr die
Wangen herunter, ich war auſſer mir. Sie trok-
nete ſie ab, ohne ſie verbergen zu wollen. Mei-
ne Tante kennen ſie, fieng ſie an; ſie war gegen-
waͤrtig, und hat, o mit was fuͤr Augen hat ſie
das angeſehn. Werther, ich habe geſtern Nacht
ausgeſtanden, und heute fruͤh eine Predigt uͤber
meinen Umgang mit Jhnen, und ich habe muͤſſen
zuhoͤren Sie herabſezzen, erniedrigen, und konn-
te und durfte Sie nur halb vertheidigen.

Jedes Wort, das ſie ſprach, gieng mir wie
Schwerder durch’s Herz. Sie fuͤhlte nicht, welche
Barmherzigkeit es geweſen waͤre, mir das alles zu
verſchweigen, und nun fuͤgte ſie noch all dazu, was
weiter wuͤrde getraͤtſcht werden, was die ſchlechten
Kerls alle daruͤber triumphiren wuͤrden. Wie
man nunmehro meinen Uebermuth und Gering-
ſchaͤzzung andrer, das ſie mir ſchon lange vorwer-
fen, geſtraft, erniedrigt ausſchreien wuͤrde. Das
alles, Wilhelm, von ihr zu hoͤren, mit der Stimme

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J 4
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[135/0023] indem ihr die Thraͤnen in den Augen ſtunden. Jch war nicht Herr mehr von mir ſelbſt, war im Begriff, mich ihr zu Fuͤſſen zu werfen. Erklaͤren ſie ſich, ruft ich: Die Thraͤnen liefen ihr die Wangen herunter, ich war auſſer mir. Sie trok- nete ſie ab, ohne ſie verbergen zu wollen. Mei- ne Tante kennen ſie, fieng ſie an; ſie war gegen- waͤrtig, und hat, o mit was fuͤr Augen hat ſie das angeſehn. Werther, ich habe geſtern Nacht ausgeſtanden, und heute fruͤh eine Predigt uͤber meinen Umgang mit Jhnen, und ich habe muͤſſen zuhoͤren Sie herabſezzen, erniedrigen, und konn- te und durfte Sie nur halb vertheidigen. Jedes Wort, das ſie ſprach, gieng mir wie Schwerder durch’s Herz. Sie fuͤhlte nicht, welche Barmherzigkeit es geweſen waͤre, mir das alles zu verſchweigen, und nun fuͤgte ſie noch all dazu, was weiter wuͤrde getraͤtſcht werden, was die ſchlechten Kerls alle daruͤber triumphiren wuͤrden. Wie man nunmehro meinen Uebermuth und Gering- ſchaͤzzung andrer, das ſie mir ſchon lange vorwer- fen, geſtraft, erniedrigt ausſchreien wuͤrde. Das alles, Wilhelm, von ihr zu hoͤren, mit der Stimme der J 4

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/23>, abgerufen am 02.05.2024.