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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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liegt, -- nicht Schuld! Genug daß in mir die
Quelle alles Elendes verborgen ist, wie es ehemals
die Quelle aller Seligkeiten war. Bin ich nicht
noch eben derselbe, der ehemals in aller Fülle der
Empfindung herumschwebte, dem auf jedem Tritte
ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze
Welt liebevoll zu umfassen. Und das Herz ist jezo
todt, aus ihm fließen keine Entzükkungen mehr,
meine Augen sind trokken, und meine Sinnen, die
nicht mehr von erquikkenden Thränen gelabt wer-
den, ziehen ängstlich meine Stirne zusammen.
Jch leide viel, denn ich habe verlohren was mei-
nes Lebens einzige Wonne war, die heilige bele-
bende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf.
Sie ist dahin! -- Wenn ich zu meinem Fenster
hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgen-
sonne über ihn her den Nebel durchbricht und den
stillen Wiesengrund bescheint, und der sanfte Fluß
zwischen seinen entblätterten Weiden zu mir her-
schlängelt, o wenn da diese herrliche Natur so starr
vor mir steht wie ein lakirt Bildgen, und all die
Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Her-
zen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der

ganze



liegt, — nicht Schuld! Genug daß in mir die
Quelle alles Elendes verborgen iſt, wie es ehemals
die Quelle aller Seligkeiten war. Bin ich nicht
noch eben derſelbe, der ehemals in aller Fuͤlle der
Empfindung herumſchwebte, dem auf jedem Tritte
ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze
Welt liebevoll zu umfaſſen. Und das Herz iſt jezo
todt, aus ihm fließen keine Entzuͤkkungen mehr,
meine Augen ſind trokken, und meine Sinnen, die
nicht mehr von erquikkenden Thraͤnen gelabt wer-
den, ziehen aͤngſtlich meine Stirne zuſammen.
Jch leide viel, denn ich habe verlohren was mei-
nes Lebens einzige Wonne war, die heilige bele-
bende Kraft, mit der ich Welten um mich ſchuf.
Sie iſt dahin! — Wenn ich zu meinem Fenſter
hinaus an den fernen Huͤgel ſehe, wie die Morgen-
ſonne uͤber ihn her den Nebel durchbricht und den
ſtillen Wieſengrund beſcheint, und der ſanfte Fluß
zwiſchen ſeinen entblaͤtterten Weiden zu mir her-
ſchlaͤngelt, o wenn da dieſe herrliche Natur ſo ſtarr
vor mir ſteht wie ein lakirt Bildgen, und all die
Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Her-
zen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der

ganze
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[157/0045] liegt, — nicht Schuld! Genug daß in mir die Quelle alles Elendes verborgen iſt, wie es ehemals die Quelle aller Seligkeiten war. Bin ich nicht noch eben derſelbe, der ehemals in aller Fuͤlle der Empfindung herumſchwebte, dem auf jedem Tritte ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu umfaſſen. Und das Herz iſt jezo todt, aus ihm fließen keine Entzuͤkkungen mehr, meine Augen ſind trokken, und meine Sinnen, die nicht mehr von erquikkenden Thraͤnen gelabt wer- den, ziehen aͤngſtlich meine Stirne zuſammen. Jch leide viel, denn ich habe verlohren was mei- nes Lebens einzige Wonne war, die heilige bele- bende Kraft, mit der ich Welten um mich ſchuf. Sie iſt dahin! — Wenn ich zu meinem Fenſter hinaus an den fernen Huͤgel ſehe, wie die Morgen- ſonne uͤber ihn her den Nebel durchbricht und den ſtillen Wieſengrund beſcheint, und der ſanfte Fluß zwiſchen ſeinen entblaͤtterten Weiden zu mir her- ſchlaͤngelt, o wenn da dieſe herrliche Natur ſo ſtarr vor mir ſteht wie ein lakirt Bildgen, und all die Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Her- zen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der ganze

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/45>, abgerufen am 21.11.2024.