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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ja wenn ich dir das so sagen könnte! Jch wi-
derstund nicht länger, neigte mich und schwur:
Nie will ich's wagen, einen Kuß euch einzudrük-
ken Lippen, auf denen die Geister des Himmels
schweben -- Und doch -- ich will -- Ha siehst
du, das steht wie eine Scheidewand vor meiner
Seelen -- diese Seligkeit -- und da untergegan-
gen, die Sünde abzubüssen -- Sünde?




Jch soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen, wo
ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die
mich aus aller Fassung bringt. Heut! O Schik-
sal! O Menschheit!

Jch gehe an dem Wasser hin in der Mit-
tagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war
so öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber-
ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal
hinein. Von ferne seh ich einen Menschen in ei-
nem grünen schlechten Rokke, der zwischen den Fel-
sen herumkrabelte und Kräuter zu suchen schien.
Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das

Geräusch
L 2



Ja wenn ich dir das ſo ſagen koͤnnte! Jch wi-
derſtund nicht laͤnger, neigte mich und ſchwur:
Nie will ich’s wagen, einen Kuß euch einzudruͤk-
ken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels
ſchweben — Und doch — ich will — Ha ſiehſt
du, das ſteht wie eine Scheidewand vor meiner
Seelen — dieſe Seligkeit — und da untergegan-
gen, die Suͤnde abzubuͤſſen — Suͤnde?




Jch ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo
ich hintrete, begegnet mir eine Erſcheinung, die
mich aus aller Faſſung bringt. Heut! O Schik-
ſal! O Menſchheit!

Jch gehe an dem Waſſer hin in der Mit-
tagsſtunde, ich hatte keine Luſt zu eſſen. Alles war
ſo oͤde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber-
ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal
hinein. Von ferne ſeh ich einen Menſchen in ei-
nem gruͤnen ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Fel-
ſen herumkrabelte und Kraͤuter zu ſuchen ſchien.
Als ich naͤher zu ihm kam und er ſich auf das

Geraͤuſch
L 2
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[163/0051] Ja wenn ich dir das ſo ſagen koͤnnte! Jch wi- derſtund nicht laͤnger, neigte mich und ſchwur: Nie will ich’s wagen, einen Kuß euch einzudruͤk- ken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels ſchweben — Und doch — ich will — Ha ſiehſt du, das ſteht wie eine Scheidewand vor meiner Seelen — dieſe Seligkeit — und da untergegan- gen, die Suͤnde abzubuͤſſen — Suͤnde? am 30. Nov. Jch ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo ich hintrete, begegnet mir eine Erſcheinung, die mich aus aller Faſſung bringt. Heut! O Schik- ſal! O Menſchheit! Jch gehe an dem Waſſer hin in der Mit- tagsſtunde, ich hatte keine Luſt zu eſſen. Alles war ſo oͤde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber- ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein. Von ferne ſeh ich einen Menſchen in ei- nem gruͤnen ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Fel- ſen herumkrabelte und Kraͤuter zu ſuchen ſchien. Als ich naͤher zu ihm kam und er ſich auf das Geraͤuſch L 2

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/51>, abgerufen am 21.11.2024.