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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Eindruk unauslöschlich in ihrem Herzen seyn. Jhr
gepreßtes Herz machte sich endlich in Thränen Luft
und gieng in eine stille Melancholie über, in der
sie sich je länger je tiefer verlohr. Aber wie schlug
ihr Herz, als sie Werthern die Treppe herauf kom-
men und außen nach ihr fragen hörte. Es war zu
spät, sich verläugnen zu lassen, und sie konnte sich
nur halb von ihrer Verwirrung ermannen, als er
ins Zimmer trat. Sie haben nicht Wort gehalten!
rief sie ihm entgegen. Jch habe nichts versprochen,
war seine Antwort. So hätten Sie mir wenig-
stens meine Bitte gewähren sollen, sagte sie, es
war Bitte um unserer beyder Ruhe willen. Jn-
dem sie das sprach, hatte sie bey sich überlegt, ei-
nige ihrer Freundinnen zu sich rufen zu lassen. Sie
sollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern
seyn, und Abends, weil er sie nach Hause führen
mußte, ward sie ihn zur rechten Zeit los. Er hatte
ihr einige Bücher zurük gebracht, sie fragte nach
einigen andern, und suchte das Gespräch in Er-
wartung ihrer Freundinnen, allgemein zu erhalten,
als das Mädgen zurük kam und ihr hinterbrachte,
wie sie sich beyde entschuldigen ließen, die eine habe

unan-



Eindruk unausloͤſchlich in ihrem Herzen ſeyn. Jhr
gepreßtes Herz machte ſich endlich in Thraͤnen Luft
und gieng in eine ſtille Melancholie uͤber, in der
ſie ſich je laͤnger je tiefer verlohr. Aber wie ſchlug
ihr Herz, als ſie Werthern die Treppe herauf kom-
men und außen nach ihr fragen hoͤrte. Es war zu
ſpaͤt, ſich verlaͤugnen zu laſſen, und ſie konnte ſich
nur halb von ihrer Verwirrung ermannen, als er
ins Zimmer trat. Sie haben nicht Wort gehalten!
rief ſie ihm entgegen. Jch habe nichts verſprochen,
war ſeine Antwort. So haͤtten Sie mir wenig-
ſtens meine Bitte gewaͤhren ſollen, ſagte ſie, es
war Bitte um unſerer beyder Ruhe willen. Jn-
dem ſie das ſprach, hatte ſie bey ſich uͤberlegt, ei-
nige ihrer Freundinnen zu ſich rufen zu laſſen. Sie
ſollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern
ſeyn, und Abends, weil er ſie nach Hauſe fuͤhren
mußte, ward ſie ihn zur rechten Zeit los. Er hatte
ihr einige Buͤcher zuruͤk gebracht, ſie fragte nach
einigen andern, und ſuchte das Geſpraͤch in Er-
wartung ihrer Freundinnen, allgemein zu erhalten,
als das Maͤdgen zuruͤk kam und ihr hinterbrachte,
wie ſie ſich beyde entſchuldigen ließen, die eine habe

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[191/0079] Eindruk unausloͤſchlich in ihrem Herzen ſeyn. Jhr gepreßtes Herz machte ſich endlich in Thraͤnen Luft und gieng in eine ſtille Melancholie uͤber, in der ſie ſich je laͤnger je tiefer verlohr. Aber wie ſchlug ihr Herz, als ſie Werthern die Treppe herauf kom- men und außen nach ihr fragen hoͤrte. Es war zu ſpaͤt, ſich verlaͤugnen zu laſſen, und ſie konnte ſich nur halb von ihrer Verwirrung ermannen, als er ins Zimmer trat. Sie haben nicht Wort gehalten! rief ſie ihm entgegen. Jch habe nichts verſprochen, war ſeine Antwort. So haͤtten Sie mir wenig- ſtens meine Bitte gewaͤhren ſollen, ſagte ſie, es war Bitte um unſerer beyder Ruhe willen. Jn- dem ſie das ſprach, hatte ſie bey ſich uͤberlegt, ei- nige ihrer Freundinnen zu ſich rufen zu laſſen. Sie ſollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern ſeyn, und Abends, weil er ſie nach Hauſe fuͤhren mußte, ward ſie ihn zur rechten Zeit los. Er hatte ihr einige Buͤcher zuruͤk gebracht, ſie fragte nach einigen andern, und ſuchte das Geſpraͤch in Er- wartung ihrer Freundinnen, allgemein zu erhalten, als das Maͤdgen zuruͤk kam und ihr hinterbrachte, wie ſie ſich beyde entſchuldigen ließen, die eine habe unan-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/79>, abgerufen am 15.05.2024.