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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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gen berührten sich. Die Welt vergieng ihnen, er
schlang seine Arme um sie her, preßte sie an sei-
ne Brust, und dekte ihre zitternde stammelnde Lip-
pen mit wüthenden Küssen. Werther! rief sie
mit erstikter Stimme sich abwendend, Werther!
und drükte mit schwacher Hand seine Brust von
der ihrigen! Werther! rief sie mit dem gefaßten
Tone des edelsten Gefühls; er widerstund nicht,
lies sie aus seinen Armen, und warf sich unsin-
nig vor sie hin. Sie riß sich auf, und in ängst-
licher Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn
sagte sie: Das ist das leztemal! Werther! Sie
sehn mich nicht wieder. Und mit dem vollsten
Blik der Liebe auf den Elenden eilte sie in's Ne-
benzimmer, und schloß hinter sich zu. Werther
strekte ihr die Arme nach, getraute sich nicht sie
zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf dem
Canapee, und in dieser Stellung blieb er über ei-
ne halbe Stunde, biß ihn ein Geräusch zu sich
selbst rief. Es war das Mädgen, das den Tisch
dekken wollte. Er gieng im Zimmer auf und ab,
und da er sich wieder allein sah, gieng er zur
Thüre des Cabinets, und rief mit leiser Stimme,

Lotte!



gen beruͤhrten ſich. Die Welt vergieng ihnen, er
ſchlang ſeine Arme um ſie her, preßte ſie an ſei-
ne Bruſt, und dekte ihre zitternde ſtammelnde Lip-
pen mit wuͤthenden Kuͤſſen. Werther! rief ſie
mit erſtikter Stimme ſich abwendend, Werther!
und druͤkte mit ſchwacher Hand ſeine Bruſt von
der ihrigen! Werther! rief ſie mit dem gefaßten
Tone des edelſten Gefuͤhls; er widerſtund nicht,
lies ſie aus ſeinen Armen, und warf ſich unſin-
nig vor ſie hin. Sie riß ſich auf, und in aͤngſt-
licher Verwirrung, bebend zwiſchen Liebe und Zorn
ſagte ſie: Das iſt das leztemal! Werther! Sie
ſehn mich nicht wieder. Und mit dem vollſten
Blik der Liebe auf den Elenden eilte ſie in’s Ne-
benzimmer, und ſchloß hinter ſich zu. Werther
ſtrekte ihr die Arme nach, getraute ſich nicht ſie
zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf dem
Canapee, und in dieſer Stellung blieb er uͤber ei-
ne halbe Stunde, biß ihn ein Geraͤuſch zu ſich
ſelbſt rief. Es war das Maͤdgen, das den Tiſch
dekken wollte. Er gieng im Zimmer auf und ab,
und da er ſich wieder allein ſah, gieng er zur
Thuͤre des Cabinets, und rief mit leiſer Stimme,

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[207/0095] gen beruͤhrten ſich. Die Welt vergieng ihnen, er ſchlang ſeine Arme um ſie her, preßte ſie an ſei- ne Bruſt, und dekte ihre zitternde ſtammelnde Lip- pen mit wuͤthenden Kuͤſſen. Werther! rief ſie mit erſtikter Stimme ſich abwendend, Werther! und druͤkte mit ſchwacher Hand ſeine Bruſt von der ihrigen! Werther! rief ſie mit dem gefaßten Tone des edelſten Gefuͤhls; er widerſtund nicht, lies ſie aus ſeinen Armen, und warf ſich unſin- nig vor ſie hin. Sie riß ſich auf, und in aͤngſt- licher Verwirrung, bebend zwiſchen Liebe und Zorn ſagte ſie: Das iſt das leztemal! Werther! Sie ſehn mich nicht wieder. Und mit dem vollſten Blik der Liebe auf den Elenden eilte ſie in’s Ne- benzimmer, und ſchloß hinter ſich zu. Werther ſtrekte ihr die Arme nach, getraute ſich nicht ſie zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf dem Canapee, und in dieſer Stellung blieb er uͤber ei- ne halbe Stunde, biß ihn ein Geraͤuſch zu ſich ſelbſt rief. Es war das Maͤdgen, das den Tiſch dekken wollte. Er gieng im Zimmer auf und ab, und da er ſich wieder allein ſah, gieng er zur Thuͤre des Cabinets, und rief mit leiſer Stimme, Lotte!

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/95>, abgerufen am 15.05.2024.