Goldschmidt, Henriette: Erklärung gegen das Frauenstimmrecht. In: Die Frauenbewegung 1/3. 1. Februar 1895, S. 19–20.[Beginn Spaltensatz]
Erklärung gegen das Frauenstimmrecht. 1. Jch bin grundsätzlich gegen jede Reaktion, aber für einen systematischen, thatsächlichen Fortschritt in der deutschen Frauenbewegung. Doch bin ich gegen die Aufnahme der Stimmrechtsfrage in unser Programm. 2. Jch bin überhaupt gegen jede Tendenz, welche die Konservativen (im weitesten Sinne gemeint) von uns fern hält, und diejenigen, welche sich bereits genähert haben, wieder zurückschreckt. 3. Jch behaupte, daß die Partei der sogenannten Frauen- rechtlerinnen, mit politischem Programm, in Deutschland ver- schwindend klein ist und in der großen Frauenwelt selbst gar keinen Boden hat. 4. Man schafft in unserer Zeit nur eine große Partei auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Programms. Die idealen Ziele kommen leider erst in zweiter Linie. 5. Daher müßte unsere vornehmste Sorge sein, erst ein- mal eine solche große Frauen-Partei in Deutschland zu schaffen, da eine solche noch garnicht vorhanden ist. 6. Dieses erhoffte ich vom Frauenbunde und von einer großen neuen Zeitung, sehe aber wenig Jnitiative auf der einen Seite und radikales Vorgehen auf der anderen, anstatt im Sinne der Einmütigkeit und Einigkeit Amerika und England sich erst einmal als Muster zu nehmen. 7. Man würde das große Ziel erreichen, wenn man zuerst alle Frauen Deutschlands, die wirtschaftlich auf sich allein angewiesen sind, aufriefe zum Zusammenschluß und zwar diejenigen, welche noch nicht zur Sozialdemokratie über- gegangen sind. Ein Entgegenkommen gegen die Letztere ist ohne parteipolitische Diskussion unmöglich, meiner Über- zeugung nach nur im volkswirtschaftlichen Sinne oder durch soziale Hilfsarbeit anzustreben. 8. Hat man erst eine große Frauengemeinschaft in Deutschland gegründet, vermag man sie so zu organisieren, daß sie imposante, einmütige Kundgebungen erlassen kann, wenn es sich um ideale Ziele handelt, wie um die volle Gleichstellung der Gatten im Ehegesetz, um die Gleichberech- tigung der Frauen vor dem bürgerlichen Gesetze, um obli- gatorischen Unterricht in Gesetzeskunde und praktischer Ver- mögensverwaltung in den Schulen, zur Befähigung für die Vormundschaft u. s. w.; dann erst hätten wir einen Schritt gethan, gleich dem, der für die amerikanische Bewegung grundlegend war, d. h. auch eine Sklavenbefreiung und zwar derjenigen, die bisher rat- und thatenlos freiwillig Sklaven waren. Dann konnten wir auch sagen wie Faust: "Jm Anfang war die That" und nicht nur das Wort! 9. Um dieses Ziel zu erreichen, muß unser Programm ein gemäßigtes und kein überstürztes sein; besonders an die Stellung der Frau als Gattin und Mutter dürfen wir nicht rühren, sondern müssen ihren Wert und ihre Bedeutung immer in erster Reihe betonen. 10. Erst wenn bei uns ein Zusammenschluß stattgefunden hat, können wir vielleicht daran denken, die Frauen zur poli- tischen Mitwirkung an der Gesetzgebung zu erziehen und zwar durch Belehrung, durch Selbststudium auf allen Ge- bieten des öffentlichen Lebens. Wenn wir auch einzelne Frauen haben, die reif sind für eine öffentliche Thätigkeit, was hülfe es ihnen, wenn ihre Kandidatur an der Jndolenz und Gleichgültigkeit ihrer Wähler scheiterte oder der Wider- stand der eigenen Genossinnen sie lächerlich machte? Wollen wir ferner damit beginnen, das zu verlangen, 11. Erst wenn die Frauen durch Abstreifen der Jn- dolenz und Gleichgültigkeit für alles positive Wissen, ferner durch die Mitarbeit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft und Wohlfahrt und durch allgemeine, öffentliche Kund- gebungen für Menschenrecht und Gerechtigkeit sich Achtung zu verschaffen gewußt haben und dadurch bewiesen ist, was sie können, mögen sie auch alle Rechte verlangen, die ihnen als Menschen und Bürgerinnen des Staates zukommen. An diesem Ziele haben wir vorläufig unausgesetzt zu Bemerkungen zu obigem Artikel. Von den Herausgeberinnen. Unserem Grundsatz entsprechend haben wir dieser Er- Zu 1. Das Programm der Zeitschrift beruht Zu 2. Die letztere wird die konservativste Richtung in Zu 6. Wir verweisen auf den in Nr. 2 veröffentlichten Zu 10. Man hat weder alle Männer, noch die Sklaven Weiter spricht die Verfasserin, daß "außer in [Beginn Spaltensatz]
Erklärung gegen das Frauenstimmrecht. 1. Jch bin grundsätzlich gegen jede Reaktion, aber für einen systematischen, thatsächlichen Fortschritt in der deutschen Frauenbewegung. Doch bin ich gegen die Aufnahme der Stimmrechtsfrage in unser Programm. 2. Jch bin überhaupt gegen jede Tendenz, welche die Konservativen (im weitesten Sinne gemeint) von uns fern hält, und diejenigen, welche sich bereits genähert haben, wieder zurückschreckt. 3. Jch behaupte, daß die Partei der sogenannten Frauen- rechtlerinnen, mit politischem Programm, in Deutschland ver- schwindend klein ist und in der großen Frauenwelt selbst gar keinen Boden hat. 4. Man schafft in unserer Zeit nur eine große Partei auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Programms. Die idealen Ziele kommen leider erst in zweiter Linie. 5. Daher müßte unsere vornehmste Sorge sein, erst ein- mal eine solche große Frauen-Partei in Deutschland zu schaffen, da eine solche noch garnicht vorhanden ist. 6. Dieses erhoffte ich vom Frauenbunde und von einer großen neuen Zeitung, sehe aber wenig Jnitiative auf der einen Seite und radikales Vorgehen auf der anderen, anstatt im Sinne der Einmütigkeit und Einigkeit Amerika und England sich erst einmal als Muster zu nehmen. 7. Man würde das große Ziel erreichen, wenn man zuerst alle Frauen Deutschlands, die wirtschaftlich auf sich allein angewiesen sind, aufriefe zum Zusammenschluß und zwar diejenigen, welche noch nicht zur Sozialdemokratie über- gegangen sind. Ein Entgegenkommen gegen die Letztere ist ohne parteipolitische Diskussion unmöglich, meiner Über- zeugung nach nur im volkswirtschaftlichen Sinne oder durch soziale Hilfsarbeit anzustreben. 8. Hat man erst eine große Frauengemeinschaft in Deutschland gegründet, vermag man sie so zu organisieren, daß sie imposante, einmütige Kundgebungen erlassen kann, wenn es sich um ideale Ziele handelt, wie um die volle Gleichstellung der Gatten im Ehegesetz, um die Gleichberech- tigung der Frauen vor dem bürgerlichen Gesetze, um obli- gatorischen Unterricht in Gesetzeskunde und praktischer Ver- mögensverwaltung in den Schulen, zur Befähigung für die Vormundschaft u. s. w.; dann erst hätten wir einen Schritt gethan, gleich dem, der für die amerikanische Bewegung grundlegend war, d. h. auch eine Sklavenbefreiung und zwar derjenigen, die bisher rat- und thatenlos freiwillig Sklaven waren. Dann konnten wir auch sagen wie Faust: „Jm Anfang war die That‟ und nicht nur das Wort! 9. Um dieses Ziel zu erreichen, muß unser Programm ein gemäßigtes und kein überstürztes sein; besonders an die Stellung der Frau als Gattin und Mutter dürfen wir nicht rühren, sondern müssen ihren Wert und ihre Bedeutung immer in erster Reihe betonen. 10. Erst wenn bei uns ein Zusammenschluß stattgefunden hat, können wir vielleicht daran denken, die Frauen zur poli- tischen Mitwirkung an der Gesetzgebung zu erziehen und zwar durch Belehrung, durch Selbststudium auf allen Ge- bieten des öffentlichen Lebens. Wenn wir auch einzelne Frauen haben, die reif sind für eine öffentliche Thätigkeit, was hülfe es ihnen, wenn ihre Kandidatur an der Jndolenz und Gleichgültigkeit ihrer Wähler scheiterte oder der Wider- stand der eigenen Genossinnen sie lächerlich machte? Wollen wir ferner damit beginnen, das zu verlangen, 11. Erst wenn die Frauen durch Abstreifen der Jn- dolenz und Gleichgültigkeit für alles positive Wissen, ferner durch die Mitarbeit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft und Wohlfahrt und durch allgemeine, öffentliche Kund- gebungen für Menschenrecht und Gerechtigkeit sich Achtung zu verschaffen gewußt haben und dadurch bewiesen ist, was sie können, mögen sie auch alle Rechte verlangen, die ihnen als Menschen und Bürgerinnen des Staates zukommen. An diesem Ziele haben wir vorläufig unausgesetzt zu Bemerkungen zu obigem Artikel. Von den Herausgeberinnen. Unserem Grundsatz entsprechend haben wir dieser Er- Zu 1. Das Programm der Zeitschrift beruht Zu 2. Die letztere wird die konservativste Richtung in Zu 6. Wir verweisen auf den in Nr. 2 veröffentlichten Zu 10. 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Jch behaupte, daß die Partei der sogenannten Frauen-<lb/> rechtlerinnen, mit politischem Programm, in Deutschland ver-<lb/> schwindend klein ist und in der großen Frauenwelt selbst gar<lb/> keinen Boden hat.</item><lb/> <item>4. Man schafft in unserer Zeit nur eine große Partei<lb/> auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Programms. Die<lb/> idealen Ziele kommen leider erst in zweiter Linie.</item><lb/> <item>5. Daher müßte unsere vornehmste Sorge sein, erst ein-<lb/> mal eine solche große Frauen-Partei in Deutschland zu<lb/> schaffen, da eine solche noch garnicht vorhanden ist.</item><lb/> <item>6. Dieses erhoffte ich vom Frauenbunde und von einer<lb/> großen neuen Zeitung, sehe aber wenig Jnitiative auf der<lb/> einen Seite und radikales Vorgehen auf der anderen, anstatt<lb/> im Sinne der <hi rendition="#g">Einmütigkeit</hi> und <hi rendition="#g">Einigkeit</hi> Amerika und<lb/> England sich erst einmal als Muster zu nehmen.</item><lb/> <item>7. 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Wenn wir auch einzelne<lb/> Frauen haben, die reif sind für eine öffentliche Thätigkeit,<lb/> was hülfe es ihnen, wenn ihre Kandidatur an der Jndolenz<lb/> und Gleichgültigkeit ihrer Wähler scheiterte oder der Wider-<lb/> stand der eigenen Genossinnen sie lächerlich machte?<lb/><p>Wollen wir ferner damit beginnen, das zu verlangen,<lb/> was außer in einzelnen Territorien des westlichen Amerikas<lb/> noch kein zivilisierter Staat den Frauen gewährt hat,<lb/> was bei uns also noch <hi rendition="#g">gänzlich aussichtslos</hi> ist, wir,<lb/> die wir vorläufig noch nicht einmal die einfachsten praktischen<lb/> Ziele erreicht haben, die in anderen europäischen Ländern<lb/> längst errungen sind? Wollen wir politische Rechte haben<cb/> wie sie den Männern zustehen, ehe wir das Recht auf<lb/> Bildung und freie Berufswahl erlangt haben, welches allein<lb/> uns zu den ersteren befähigen kann und uns die wirtschaft-<lb/> liche Selbständigkeit sichert? Das hieße das Schwert um-<lb/> drehen und sich selbst umbringen, anstatt vernünftig vorwärts<lb/> streben und Kulturarbeit thun.</p></item><lb/> <item>11. Erst wenn die Frauen durch Abstreifen der Jn-<lb/> dolenz und Gleichgültigkeit für alles positive Wissen, ferner<lb/> durch die Mitarbeit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft<lb/> und Wohlfahrt und durch allgemeine, öffentliche Kund-<lb/> gebungen für Menschenrecht und Gerechtigkeit sich Achtung<lb/> zu verschaffen gewußt haben und dadurch bewiesen ist, was<lb/> sie können, mögen sie auch alle Rechte verlangen, die ihnen<lb/> als Menschen und Bürgerinnen des Staates zukommen.</item> </list><lb/> <p>An diesem Ziele haben wir vorläufig unausgesetzt zu<lb/> arbeiten.</p><lb/> </div> <div n="1"> <head> <hi rendition="#g">Bemerkungen zu obigem Artikel.</hi><lb/> <hi rendition="#smaller">Von den Herausgeberinnen.</hi> </head><lb/> <p>Unserem Grundsatz entsprechend haben wir dieser Er-<lb/> klärung gegen die Bestrebungen zu Gunsten des Frauenstimm-<lb/> rechts die Spalten unseres Blattes geöffnet, und haben nur<lb/> einige sachliche Bemerkungen hinzuzufügen.</p><lb/> <p>Zu 1. Das <hi rendition="#g">Programm der Zeitschrift</hi> beruht<lb/> auf dem Satz, daß sie <hi rendition="#g">allen Richtungen</hi> offen steht und<lb/> daß demnach die Richtung, welche die volle Gleichberech-<lb/> tigung des weiblichen Geschlechts verlangt, auch zur Gel-<lb/> tung kommen muß.</p><lb/> <p>Zu 2. Die letztere wird die konservativste Richtung in<lb/> der Frauenfrage zur Mitarbeit direkt auffordern, denn sie<lb/> will ihr Ziel erreichen: ein Spiegelbild der gesamten Frauen-<lb/> bewegung zu sein.</p><lb/> <p>Zu 6. Wir verweisen auf den in Nr. 2 veröffentlichten<lb/> Brief aus England, aus dem hervorgeht, daß die englischen<lb/> Frauen einig in der Forderung des Stimmrechts sind,<lb/> während sie in anderen Fragen sehr verschiedene Meinung<lb/> haben. Jn Amerika ist, nach persönlicher Auslassung eines<lb/> in dieser Frage bewanderten amerikanischen Gelehrten, des<lb/> den Mitgliedern des Vereins „Frauenwohl‟ durch den Dis-<lb/> kussionsabend am 11. Dez. v. J. bekannten Professor Griggs,<lb/> die Sachlage eine ähnliche.</p><lb/> <p>Zu 10. Man hat weder alle Männer, noch die Sklaven<lb/> Amerikas für die Politik „erzogen‟, ehe man ihnen Rechte<lb/> gab, weil man <hi rendition="#g">zur</hi> Freiheit nicht erziehen kann, sondern<lb/> erst <hi rendition="#g">durch</hi> die Freiheit erzogen wird. Kant, der größte<lb/> Philosoph Deutschlands, sagt darüber: „Jch gestehe, daß ich<lb/> mich in dem Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer<lb/> bedienen, nicht wohl finden kann: ein gewisses Volk, was in<lb/> der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist, ist<lb/> zur Freiheit nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung<lb/> aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu ihr<lb/> nicht reifen, wenn man nicht in Freiheit gesetzt worden ist;<lb/> man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit<lb/> zweckmäßig bedienen zu können. Die ersten Versuche werden<lb/> freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und<lb/> gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch<lb/> unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge Anderer stand;<lb/> allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene<lb/> Versuche, welche machen zu dürfen man frei sein muß.‟</p><lb/> <p>Weiter spricht die Verfasserin, daß „außer in<lb/> einzelnen Territorien des westlichen Amerikas noch kein<lb/> zivilisierter Staat‟ den Frauen die Bürgerrechte gegeben<lb/> habe. Das beruht auf einem Jrrtum. 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Erklärung gegen das Frauenstimmrecht.
Von Henriette Goldschmidt in Berlin
1. Jch bin grundsätzlich gegen jede Reaktion, aber für
einen systematischen, thatsächlichen Fortschritt in der deutschen
Frauenbewegung. Doch bin ich gegen die Aufnahme der
Stimmrechtsfrage in unser Programm.
2. Jch bin überhaupt gegen jede Tendenz, welche die
Konservativen (im weitesten Sinne gemeint) von uns fern
hält, und diejenigen, welche sich bereits genähert haben, wieder
zurückschreckt.
3. Jch behaupte, daß die Partei der sogenannten Frauen-
rechtlerinnen, mit politischem Programm, in Deutschland ver-
schwindend klein ist und in der großen Frauenwelt selbst gar
keinen Boden hat.
4. Man schafft in unserer Zeit nur eine große Partei
auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Programms. Die
idealen Ziele kommen leider erst in zweiter Linie.
5. Daher müßte unsere vornehmste Sorge sein, erst ein-
mal eine solche große Frauen-Partei in Deutschland zu
schaffen, da eine solche noch garnicht vorhanden ist.
6. Dieses erhoffte ich vom Frauenbunde und von einer
großen neuen Zeitung, sehe aber wenig Jnitiative auf der
einen Seite und radikales Vorgehen auf der anderen, anstatt
im Sinne der Einmütigkeit und Einigkeit Amerika und
England sich erst einmal als Muster zu nehmen.
7. Man würde das große Ziel erreichen, wenn man
zuerst alle Frauen Deutschlands, die wirtschaftlich auf sich
allein angewiesen sind, aufriefe zum Zusammenschluß und
zwar diejenigen, welche noch nicht zur Sozialdemokratie über-
gegangen sind. Ein Entgegenkommen gegen die Letztere ist
ohne parteipolitische Diskussion unmöglich, meiner Über-
zeugung nach nur im volkswirtschaftlichen Sinne oder durch
soziale Hilfsarbeit anzustreben.
8. Hat man erst eine große Frauengemeinschaft in
Deutschland gegründet, vermag man sie so zu organisieren,
daß sie imposante, einmütige Kundgebungen erlassen kann,
wenn es sich um ideale Ziele handelt, wie um die volle
Gleichstellung der Gatten im Ehegesetz, um die Gleichberech-
tigung der Frauen vor dem bürgerlichen Gesetze, um obli-
gatorischen Unterricht in Gesetzeskunde und praktischer Ver-
mögensverwaltung in den Schulen, zur Befähigung für die
Vormundschaft u. s. w.; dann erst hätten wir einen Schritt
gethan, gleich dem, der für die amerikanische Bewegung
grundlegend war, d. h. auch eine Sklavenbefreiung und
zwar derjenigen, die bisher rat- und thatenlos freiwillig
Sklaven waren. Dann konnten wir auch sagen wie Faust:
„Jm Anfang war die That‟ und nicht nur das Wort!
9. Um dieses Ziel zu erreichen, muß unser Programm
ein gemäßigtes und kein überstürztes sein; besonders an die
Stellung der Frau als Gattin und Mutter dürfen wir nicht
rühren, sondern müssen ihren Wert und ihre Bedeutung immer
in erster Reihe betonen.
10. Erst wenn bei uns ein Zusammenschluß stattgefunden
hat, können wir vielleicht daran denken, die Frauen zur poli-
tischen Mitwirkung an der Gesetzgebung zu erziehen und
zwar durch Belehrung, durch Selbststudium auf allen Ge-
bieten des öffentlichen Lebens. Wenn wir auch einzelne
Frauen haben, die reif sind für eine öffentliche Thätigkeit,
was hülfe es ihnen, wenn ihre Kandidatur an der Jndolenz
und Gleichgültigkeit ihrer Wähler scheiterte oder der Wider-
stand der eigenen Genossinnen sie lächerlich machte?
Wollen wir ferner damit beginnen, das zu verlangen,
was außer in einzelnen Territorien des westlichen Amerikas
noch kein zivilisierter Staat den Frauen gewährt hat,
was bei uns also noch gänzlich aussichtslos ist, wir,
die wir vorläufig noch nicht einmal die einfachsten praktischen
Ziele erreicht haben, die in anderen europäischen Ländern
längst errungen sind? Wollen wir politische Rechte haben
wie sie den Männern zustehen, ehe wir das Recht auf
Bildung und freie Berufswahl erlangt haben, welches allein
uns zu den ersteren befähigen kann und uns die wirtschaft-
liche Selbständigkeit sichert? Das hieße das Schwert um-
drehen und sich selbst umbringen, anstatt vernünftig vorwärts
streben und Kulturarbeit thun.
11. Erst wenn die Frauen durch Abstreifen der Jn-
dolenz und Gleichgültigkeit für alles positive Wissen, ferner
durch die Mitarbeit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft
und Wohlfahrt und durch allgemeine, öffentliche Kund-
gebungen für Menschenrecht und Gerechtigkeit sich Achtung
zu verschaffen gewußt haben und dadurch bewiesen ist, was
sie können, mögen sie auch alle Rechte verlangen, die ihnen
als Menschen und Bürgerinnen des Staates zukommen.
An diesem Ziele haben wir vorläufig unausgesetzt zu
arbeiten.
Bemerkungen zu obigem Artikel.
Von den Herausgeberinnen.
Unserem Grundsatz entsprechend haben wir dieser Er-
klärung gegen die Bestrebungen zu Gunsten des Frauenstimm-
rechts die Spalten unseres Blattes geöffnet, und haben nur
einige sachliche Bemerkungen hinzuzufügen.
Zu 1. Das Programm der Zeitschrift beruht
auf dem Satz, daß sie allen Richtungen offen steht und
daß demnach die Richtung, welche die volle Gleichberech-
tigung des weiblichen Geschlechts verlangt, auch zur Gel-
tung kommen muß.
Zu 2. Die letztere wird die konservativste Richtung in
der Frauenfrage zur Mitarbeit direkt auffordern, denn sie
will ihr Ziel erreichen: ein Spiegelbild der gesamten Frauen-
bewegung zu sein.
Zu 6. Wir verweisen auf den in Nr. 2 veröffentlichten
Brief aus England, aus dem hervorgeht, daß die englischen
Frauen einig in der Forderung des Stimmrechts sind,
während sie in anderen Fragen sehr verschiedene Meinung
haben. Jn Amerika ist, nach persönlicher Auslassung eines
in dieser Frage bewanderten amerikanischen Gelehrten, des
den Mitgliedern des Vereins „Frauenwohl‟ durch den Dis-
kussionsabend am 11. Dez. v. J. bekannten Professor Griggs,
die Sachlage eine ähnliche.
Zu 10. Man hat weder alle Männer, noch die Sklaven
Amerikas für die Politik „erzogen‟, ehe man ihnen Rechte
gab, weil man zur Freiheit nicht erziehen kann, sondern
erst durch die Freiheit erzogen wird. Kant, der größte
Philosoph Deutschlands, sagt darüber: „Jch gestehe, daß ich
mich in dem Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer
bedienen, nicht wohl finden kann: ein gewisses Volk, was in
der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist, ist
zur Freiheit nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung
aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu ihr
nicht reifen, wenn man nicht in Freiheit gesetzt worden ist;
man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit
zweckmäßig bedienen zu können. Die ersten Versuche werden
freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und
gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch
unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge Anderer stand;
allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene
Versuche, welche machen zu dürfen man frei sein muß.‟
Weiter spricht die Verfasserin, daß „außer in
einzelnen Territorien des westlichen Amerikas noch kein
zivilisierter Staat‟ den Frauen die Bürgerrechte gegeben
habe. Das beruht auf einem Jrrtum. Es sind keine
„Territorien‟, sondern den Vereinigten Staaten einver-
leibte Staaten, welche die Frauen vollständig gleich gestellt
haben, nämlich die Staaten: Wyoming, Kolorado und Utah.
Wyoming ist, nebenbei gesagt, ungefähr so groß wie Jtalien.
Außerdem hat die große englische Kolonie Neu-Seeland unter
Zustimmung der englischen Regierung den Frauen das Stimm-
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