Gotthelf, Jeremias [d. i. Albert Bitzius]: Kurt von Koppigen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 12. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–194. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.in der Blüthe schon vom Wurme benagte Bildung versank, mit einer nur deßhalb nicht überraschenden Plötzlichkeit hervorbrachen, weil sie schon vorher, schwach niedergehalten, das eigentliche Wesen der Gesellschaft ausgemacht hatten. Sieht man jedoch näher zu, so wird man gewahr, daß er sich eines einfachen Kunstmittels bedient und eben damit den rechten Punkt trifft, indem er nämlich frischweg mit einem Griff in die nächste Nähe seine Bauern in die alten Eisenkleider steckt und sie in diesen als vollkommene Repräsentanten des wilden Adels jener zuchtloseren Zeiten hanthieren läßt. Durch diese Verwerthung eines lebendig angeschauten Materials erlangt er ohne sonderliches Studium des historischen Details eine Lebenswahrheit, mit welcher seine Dichtung sich nicht unwürdig neben die aus dem Mittelalter selbst stammende berühmte Erzählung vom "Meier Helmbrecht" stellen darf, die freilich einen unnachahmlichen Reichthum von Einzelzügen bietet und auch weiterhin ein vollständigeres Zeitbild entfaltet, indem sie uns den festen Stand des freien Bauern gegenüber dem adeligen Räuber kennen lehrt. Hierin steht Gotthelf zurück, aber was er giebt, ist ganz und voll gegriffen, und seine Gestalten wetteifern an Fleisch und Blut mit den lebendigen Gestalten jener alten Erzählung. Dies ist um so bewundernswerther, als er, wie gesagt, sich wenig mit dem alten Costüm zu schaffen macht. Ja, selbst der Ton des Erzählers, obwohl markig, wie von Gotthelf zu erwarten, ist nichts weniger als alterthümlich. Und nicht bloß dieses: sogar an jenen Seitensprüngen und Seitenhieben, mit welchen er bei jeder Gelegenheit die Gegenwart zu bedienen gewohnt ist, fehlt es auch bei diesem so ungelegenen Anlasse nicht; so daß man sich freilich mehr als einmal versucht fühlen könnte, die störenden modernen Auswüchse wegzuschneiden. Allein wir hielten uns in diesem wie in ähnlichen Fällen zu einem eigenmächtigen Verfahren nicht berechtigt; und nur eine einzige Stelle von nicht ganz einem Dutzend Worten (S. 104 des Originaldrucks), die uns geradezu unmöglich schien, glaubten wir mit gutem Gewissen auslassen zu dürfen. Ein Bedenken anderer Art möchte Manchem der schon oben berührte Schluß erregen, der mit seinen Wundererscheinungen, die sich nicht als bloße Vision in der Blüthe schon vom Wurme benagte Bildung versank, mit einer nur deßhalb nicht überraschenden Plötzlichkeit hervorbrachen, weil sie schon vorher, schwach niedergehalten, das eigentliche Wesen der Gesellschaft ausgemacht hatten. Sieht man jedoch näher zu, so wird man gewahr, daß er sich eines einfachen Kunstmittels bedient und eben damit den rechten Punkt trifft, indem er nämlich frischweg mit einem Griff in die nächste Nähe seine Bauern in die alten Eisenkleider steckt und sie in diesen als vollkommene Repräsentanten des wilden Adels jener zuchtloseren Zeiten hanthieren läßt. Durch diese Verwerthung eines lebendig angeschauten Materials erlangt er ohne sonderliches Studium des historischen Details eine Lebenswahrheit, mit welcher seine Dichtung sich nicht unwürdig neben die aus dem Mittelalter selbst stammende berühmte Erzählung vom „Meier Helmbrecht“ stellen darf, die freilich einen unnachahmlichen Reichthum von Einzelzügen bietet und auch weiterhin ein vollständigeres Zeitbild entfaltet, indem sie uns den festen Stand des freien Bauern gegenüber dem adeligen Räuber kennen lehrt. Hierin steht Gotthelf zurück, aber was er giebt, ist ganz und voll gegriffen, und seine Gestalten wetteifern an Fleisch und Blut mit den lebendigen Gestalten jener alten Erzählung. Dies ist um so bewundernswerther, als er, wie gesagt, sich wenig mit dem alten Costüm zu schaffen macht. Ja, selbst der Ton des Erzählers, obwohl markig, wie von Gotthelf zu erwarten, ist nichts weniger als alterthümlich. Und nicht bloß dieses: sogar an jenen Seitensprüngen und Seitenhieben, mit welchen er bei jeder Gelegenheit die Gegenwart zu bedienen gewohnt ist, fehlt es auch bei diesem so ungelegenen Anlasse nicht; so daß man sich freilich mehr als einmal versucht fühlen könnte, die störenden modernen Auswüchse wegzuschneiden. Allein wir hielten uns in diesem wie in ähnlichen Fällen zu einem eigenmächtigen Verfahren nicht berechtigt; und nur eine einzige Stelle von nicht ganz einem Dutzend Worten (S. 104 des Originaldrucks), die uns geradezu unmöglich schien, glaubten wir mit gutem Gewissen auslassen zu dürfen. Ein Bedenken anderer Art möchte Manchem der schon oben berührte Schluß erregen, der mit seinen Wundererscheinungen, die sich nicht als bloße Vision <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0006"/> in der Blüthe schon vom Wurme benagte Bildung versank, mit einer nur deßhalb nicht überraschenden Plötzlichkeit hervorbrachen, weil sie schon vorher, schwach niedergehalten, das eigentliche Wesen der Gesellschaft ausgemacht hatten. Sieht man jedoch näher zu, so wird man gewahr, daß er sich eines einfachen Kunstmittels bedient und eben damit den rechten Punkt trifft, indem er nämlich frischweg mit einem Griff in die nächste Nähe seine Bauern in die alten Eisenkleider steckt und sie in diesen als vollkommene Repräsentanten des wilden Adels jener zuchtloseren Zeiten hanthieren läßt. Durch diese Verwerthung eines lebendig angeschauten Materials erlangt er ohne sonderliches Studium des historischen Details eine Lebenswahrheit, mit welcher seine Dichtung sich nicht unwürdig neben die aus dem Mittelalter selbst stammende berühmte Erzählung vom „Meier Helmbrecht“ stellen darf, die freilich einen unnachahmlichen Reichthum von Einzelzügen bietet und auch weiterhin ein vollständigeres Zeitbild entfaltet, indem sie uns den festen Stand des freien Bauern gegenüber dem adeligen Räuber kennen lehrt. Hierin steht Gotthelf zurück, aber was er giebt, ist ganz und voll gegriffen, und seine Gestalten wetteifern an Fleisch und Blut mit den lebendigen Gestalten jener alten Erzählung. Dies ist um so bewundernswerther, als er, wie gesagt, sich wenig mit dem alten Costüm zu schaffen macht. Ja, selbst der Ton des Erzählers, obwohl markig, wie von Gotthelf zu erwarten, ist nichts weniger als alterthümlich. Und nicht bloß dieses: sogar an jenen Seitensprüngen und Seitenhieben, mit welchen er bei jeder Gelegenheit die Gegenwart zu bedienen gewohnt ist, fehlt es auch bei diesem so ungelegenen Anlasse nicht; so daß man sich freilich mehr als einmal versucht fühlen könnte, die störenden modernen Auswüchse wegzuschneiden. Allein wir hielten uns in diesem wie in ähnlichen Fällen zu einem eigenmächtigen Verfahren nicht berechtigt; und nur eine einzige Stelle von nicht ganz einem Dutzend Worten (S. 104 des Originaldrucks), die uns geradezu unmöglich schien, glaubten wir mit gutem Gewissen auslassen zu dürfen. Ein Bedenken anderer Art möchte Manchem der schon oben berührte Schluß erregen, der mit seinen Wundererscheinungen, die sich nicht als bloße Vision<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0006]
in der Blüthe schon vom Wurme benagte Bildung versank, mit einer nur deßhalb nicht überraschenden Plötzlichkeit hervorbrachen, weil sie schon vorher, schwach niedergehalten, das eigentliche Wesen der Gesellschaft ausgemacht hatten. Sieht man jedoch näher zu, so wird man gewahr, daß er sich eines einfachen Kunstmittels bedient und eben damit den rechten Punkt trifft, indem er nämlich frischweg mit einem Griff in die nächste Nähe seine Bauern in die alten Eisenkleider steckt und sie in diesen als vollkommene Repräsentanten des wilden Adels jener zuchtloseren Zeiten hanthieren läßt. Durch diese Verwerthung eines lebendig angeschauten Materials erlangt er ohne sonderliches Studium des historischen Details eine Lebenswahrheit, mit welcher seine Dichtung sich nicht unwürdig neben die aus dem Mittelalter selbst stammende berühmte Erzählung vom „Meier Helmbrecht“ stellen darf, die freilich einen unnachahmlichen Reichthum von Einzelzügen bietet und auch weiterhin ein vollständigeres Zeitbild entfaltet, indem sie uns den festen Stand des freien Bauern gegenüber dem adeligen Räuber kennen lehrt. Hierin steht Gotthelf zurück, aber was er giebt, ist ganz und voll gegriffen, und seine Gestalten wetteifern an Fleisch und Blut mit den lebendigen Gestalten jener alten Erzählung. Dies ist um so bewundernswerther, als er, wie gesagt, sich wenig mit dem alten Costüm zu schaffen macht. Ja, selbst der Ton des Erzählers, obwohl markig, wie von Gotthelf zu erwarten, ist nichts weniger als alterthümlich. Und nicht bloß dieses: sogar an jenen Seitensprüngen und Seitenhieben, mit welchen er bei jeder Gelegenheit die Gegenwart zu bedienen gewohnt ist, fehlt es auch bei diesem so ungelegenen Anlasse nicht; so daß man sich freilich mehr als einmal versucht fühlen könnte, die störenden modernen Auswüchse wegzuschneiden. Allein wir hielten uns in diesem wie in ähnlichen Fällen zu einem eigenmächtigen Verfahren nicht berechtigt; und nur eine einzige Stelle von nicht ganz einem Dutzend Worten (S. 104 des Originaldrucks), die uns geradezu unmöglich schien, glaubten wir mit gutem Gewissen auslassen zu dürfen. Ein Bedenken anderer Art möchte Manchem der schon oben berührte Schluß erregen, der mit seinen Wundererscheinungen, die sich nicht als bloße Vision
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