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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Gemüth ist von jenen erhabenen Schauern begleitet, welche die dichterische pgo_088.002
Begeisterung charakterisiren. Wo sie den Dichter verläßt, da hört er auf, pgo_088.003
ein Dichter zu sein! Wer nicht das Gefühl gehabt, als ob ihm in die pgo_088.004
Feder dictirt werde; wer die Worte sucht und nicht findet, nicht im pgo_088.005
Glück über den Fund, wie getragen von unsichtbaren Schwingen, zu einem pgo_088.006
neuen weiter eilt; wer sich am Rhythmus und am Reim, wie an unwillkommenen pgo_088.007
Hemmungen, abarbeitet, statt daß ihm der geregelte Gang pgo_088.008
zum Flügel wird und der Reim zum Schlüssel, der ihm ungeahnte pgo_088.009
Gedanken zauberisch erschließt: der darf nicht mitsprechen, wo von dichterischer pgo_088.010
Begeisterung die Rede ist, dem läßt sich nicht klar machen, was pgo_088.011
doch nur mit der persönlichen Begabung, mit einer Begünstigung der pgo_088.012
Natur zusammenhängt! Doch die Begeisterung ist nicht nur blos der pgo_088.013
zündende Blitz des Augenblickes; sie muß sich zur latenten Wärme condensiren, pgo_088.014
welche eine lange Arbeit des Schaffens mit treuer Hingabe pgo_088.015
beseelt. Die begeisterten Anläufe genügen nicht; wie die Begeisterung pgo_088.016
überhaupt allein nimmer unsterbliche Werke schafft. Das sehen wir an pgo_088.017
den Sturm- und Drangepochen großer Dichter, die bei diesen, wie bei pgo_088.018
Schiller und Goethe, vorüberrauschende Ouverturen waren, bei anderen, pgo_088.019
wie bei Lenz, Klinger, Grabbe, so lange dauerten, wie ihr Dichten und pgo_088.020
Leben! Hier ist ungeregelter, maaßloser Schwung; die Begeisterung hat pgo_088.021
keinen rechten Jnhalt; sie gleicht oft dem Sturme, der dürre Blätter in pgo_088.022
die Lüfte wirbelt. Jhr ganzes Schaffen ist vulcanische Eruption -- pgo_088.023
Spalten, Risse; Befruchtendes, aber als glühende Lava; Blitze, aber aus pgo_088.024
Aschenwolken! Es fehlt die Besonnenheit! Schon der klardenkende Horaz pgo_088.025
hat diese wüste Genialität gegeißelt: "Weil Demokrit das Genie höher pgo_088.026
stellt, als die mühsame Kunst, und die besonnenen Dichter vom Helikon pgo_088.027
ausschließt, so läßt ein großer Theil von Dichtern Nägel und Haare wachsen, pgo_088.028
sucht Einöden und meidet die Bäder. Ja gewiß wird derjenige pgo_088.029
Dichterruhm ernten, der seinen Kopf, den drei Nießwurzinseln nicht heilen pgo_088.030
konnten, niemals der Scheere unterwirft;" und Goethe sagt:

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Vergebens werden ungebund'ne Geister pgo_088.032
Nach der Vollendung reiner Höhe streben!

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Die Begeisterung, die Manie, welche nach Plato's "Phädrus" der pgo_088.034
Dichter mit dem Weissager, dem Geisterbeschwörer und dem Verliebten pgo_088.035
gemein hat, wird, bei ungebundener Alleinherrschaft, wohl Dämonisches

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Vergebens werden ungebund'ne Geister pgo_088.032
Nach der Vollendung reiner Höhe streben!

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Die Begeisterung, die Manie, welche nach Plato's „Phädrus“ der pgo_088.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/110>, abgerufen am 21.11.2024.