pgo_101.001 an den Händen der Kinder ausgedrückt wird -- solche realistische pgo_101.002 Lebensbilder entbehren zu sehr der Wiedergeburt aus dem Geiste, um pgo_101.003 einen anderen als ernüchternden Eindruck zu machen. Ebenso verkehrt pgo_101.004 ist das Verlangen, das der Realismus an die Tragödie stellt: sie solle die pgo_101.005 Weltgeschichte kopiren! Das Vorbild, das Shakespeare in seinem historischen pgo_101.006 Dramencyklus gab, ist durchaus nicht nachahmenswerth; es fehlt pgo_101.007 diesen Dramen die centrale Einheit des Kunstwerkes, und die meisten derselben pgo_101.008 stehen an der Peripherie, nicht im Centrum des Shakespeare'schen pgo_101.009 Genius. Der Weltgeist verfolgt in der Geschichte andere Zwecke, als die pgo_101.010 Schönheit -- für diese hat er im Geist des Künstlers ein Asyl begründet, pgo_101.011 der die Geschichte, wo er sie erfaßt, mit seinem Feuer läutern muß.
pgo_101.012 Der Realismus als durchgreifendes Stylprincip kann in der Dichtkunst pgo_101.013 nur zu Verirrungen führen. Dagegen ist er vollkommen berechtigt, pgo_101.014 wo er sich in den Dienst der Jdee begiebt und die von ihr durchleuchtete pgo_101.015 Welt in ihrer ganzen Wahrheit darstellt. Jn dieser Weise waren Homer pgo_101.016 und Shakespeare, Goethe und Jean Paul Realisten! Sie hatten den pgo_101.017 Sinn für alle Formen und Farben der Wirklichkeit, aber der durchscheinende pgo_101.018 Untergrund der Jdee hob und verklärte ihre bunte und vielbewegte pgo_101.019 Welt! Eine eigenthümliche Abart des Realismus ist der phantastische, pgo_101.020 wie er sich z. B. in den Werken der romantischen Schule offenbarte. pgo_101.021 Obgleich hier die gewöhnlichen Bedingungen des verstandesmäßigen pgo_101.022 Zusammenhanges der Erscheinungen aufgegeben waren: so bewegte sich pgo_101.023 doch im Aether dieser Traumwelt ein recht derber Realismus, dessen pgo_101.024 Vignette der Weber "Zettel" mit seinem angezauberten Eselskopf ist.
pgo_101.025 Gegenüber der eifrigen Propaganda, welche in Lehre und Beispiel pgo_101.026 den Realismus in den Vordergrund unserer Literatur zu drängen sucht, pgo_101.027 ist es an der Zeit, die Rechte des Jdealismus und einer Poesie des Geistes pgo_101.028 zu wahren, gegen deren Verirrungen wir nicht blind sind, die aber pgo_101.029 doch das künstlerische Princip tiefer faßt, als jene Richtung, die nur einer pgo_101.030 geistverlassenen Wirklichkeit huldigt. Man mag gegen Schiller und seine pgo_101.031 Schule polemisiren, soviel man will, man mag die philosophischen Ausschreitungen pgo_101.032 in der Lyrik, den mehr gedankenvollen, als sinnlich kräftigen pgo_101.033 Ausdruck seiner dramatischen Helden tadeln -- dennoch ist nicht zu leugnen, pgo_101.034 daß der Jdealismus nicht nur dem deutschen Volke näher steht, pgo_101.035 inniger mit seinem ganzen Geistes- und Gemüthsleben verwachsen ist,
pgo_101.001 an den Händen der Kinder ausgedrückt wird — solche realistische pgo_101.002 Lebensbilder entbehren zu sehr der Wiedergeburt aus dem Geiste, um pgo_101.003 einen anderen als ernüchternden Eindruck zu machen. Ebenso verkehrt pgo_101.004 ist das Verlangen, das der Realismus an die Tragödie stellt: sie solle die pgo_101.005 Weltgeschichte kopiren! Das Vorbild, das Shakespeare in seinem historischen pgo_101.006 Dramencyklus gab, ist durchaus nicht nachahmenswerth; es fehlt pgo_101.007 diesen Dramen die centrale Einheit des Kunstwerkes, und die meisten derselben pgo_101.008 stehen an der Peripherie, nicht im Centrum des Shakespeare'schen pgo_101.009 Genius. Der Weltgeist verfolgt in der Geschichte andere Zwecke, als die pgo_101.010 Schönheit — für diese hat er im Geist des Künstlers ein Asyl begründet, pgo_101.011 der die Geschichte, wo er sie erfaßt, mit seinem Feuer läutern muß.
pgo_101.012 Der Realismus als durchgreifendes Stylprincip kann in der Dichtkunst pgo_101.013 nur zu Verirrungen führen. Dagegen ist er vollkommen berechtigt, pgo_101.014 wo er sich in den Dienst der Jdee begiebt und die von ihr durchleuchtete pgo_101.015 Welt in ihrer ganzen Wahrheit darstellt. Jn dieser Weise waren Homer pgo_101.016 und Shakespeare, Goethe und Jean Paul Realisten! Sie hatten den pgo_101.017 Sinn für alle Formen und Farben der Wirklichkeit, aber der durchscheinende pgo_101.018 Untergrund der Jdee hob und verklärte ihre bunte und vielbewegte pgo_101.019 Welt! Eine eigenthümliche Abart des Realismus ist der phantastische, pgo_101.020 wie er sich z. B. in den Werken der romantischen Schule offenbarte. pgo_101.021 Obgleich hier die gewöhnlichen Bedingungen des verstandesmäßigen pgo_101.022 Zusammenhanges der Erscheinungen aufgegeben waren: so bewegte sich pgo_101.023 doch im Aether dieser Traumwelt ein recht derber Realismus, dessen pgo_101.024 Vignette der Weber „Zettel“ mit seinem angezauberten Eselskopf ist.
pgo_101.025 Gegenüber der eifrigen Propaganda, welche in Lehre und Beispiel pgo_101.026 den Realismus in den Vordergrund unserer Literatur zu drängen sucht, pgo_101.027 ist es an der Zeit, die Rechte des Jdealismus und einer Poesie des Geistes pgo_101.028 zu wahren, gegen deren Verirrungen wir nicht blind sind, die aber pgo_101.029 doch das künstlerische Princip tiefer faßt, als jene Richtung, die nur einer pgo_101.030 geistverlassenen Wirklichkeit huldigt. Man mag gegen Schiller und seine pgo_101.031 Schule polemisiren, soviel man will, man mag die philosophischen Ausschreitungen pgo_101.032 in der Lyrik, den mehr gedankenvollen, als sinnlich kräftigen pgo_101.033 Ausdruck seiner dramatischen Helden tadeln — dennoch ist nicht zu leugnen, pgo_101.034 daß der Jdealismus nicht nur dem deutschen Volke näher steht, pgo_101.035 inniger mit seinem ganzen Geistes- und Gemüthsleben verwachsen ist,
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/123>, abgerufen am 24.11.2024.
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