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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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lebendigen Gestalten bevölkerten Welt sehnte, muß sich auf jene Heiterkeit pgo_106.002
der Weltanschauung beschränken, die den Parnaß aller Zeiten so pgo_106.003
umschweben muß, wie sie den griechischen Olymp umschwebt. Der große pgo_106.004
heitere Sinn sei, auch in getrübter Zeit, dem Künstler eigen! Doch unserer pgo_106.005
Zeit die ungemilderte Strenge plastischer Formen aufzwingen, Helden pgo_106.006
und Heldinnen der griechischen Mythe auf die Bretter bannen und bei'm pgo_106.007
Zeus und Styx schwören zu lassen -- das ist eine klägliche Wiedererweckung pgo_106.008
hellenischen Geistes, die gerade das verabsäumt, was sie von pgo_106.009
den großen Mustern vorzugsweise hätte lernen sollen! Jene Alten waren pgo_106.010
die Söhne ihrer Zeit, ihres Volkes bis in alle Schwächen, bis in jeden pgo_106.011
Aberglauben hinein -- und sind doch und gerade deshalb unsterblich pgo_106.012
geworden! Oder stört es uns bei Sophokles, daß eine seiner Haupttragödieen pgo_106.013
"Antigone," auf jenem hellenischen Aberglauben beruht, nach pgo_106.014
welchem der Unbestattete auch im Schattenreiche keine Stätte fand und pgo_106.015
an den Fluthen des Styx Jahrhunderte lang umherirren mußte? Das pgo_106.016
Begräbniß war daher den Alten wichtiger, als der Tod selbst -- und pgo_106.017
nur aus diesem Aberglauben erklärt sich die ganze Handlungsweise einer pgo_106.018
Antigone, erklärt sich die Fortsetzung der Tragödie "Ajax" noch nach dem pgo_106.019
Tode des Helden! Sophokles dichtete aus der Weltanschauung seines pgo_106.020
Volkes heraus -- thun wir dasselbe!

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Der Gegensatz des plastischen Jdeals ist das romantische, das pgo_106.022
Jdeal des Mittelalters, leise aufdämmernd in vorchristlicher Zeit in den pgo_106.023
altgermanischen Sagen, in den Riesenbildern der Edda und Ossian's pgo_106.024
Nebelgestalten, aber erst durch die Vermählung mit dem christlichen Geiste pgo_106.025
zu voller Pracht entfaltet! Hier ist alles Jnnerlichkeit, Glauben, Glorie, pgo_106.026
Empfindung -- daneben aber geht unvermittelt die Rohheit der äußern pgo_106.027
Welt ihren Gang fort! Das keusche Minnelied und die derbste Liebespraxis, pgo_106.028
die heiligste Begeisterung z. B. der Kreuzfahrer und die brutalsten pgo_106.029
Ausschweifungen, innige Frömmigkeit und ungezähmte Raublust gehen pgo_106.030
Hand in Hand! Der heilige Choral in den Herzen, in den Fäusten die pgo_106.031
Brandfackel! Dennoch vollzog sich in dieser dunklen Epoche, wo die pgo_106.032
Begräbnißlampen des heiligen Grabes allein die Welt erleuchteten, eine pgo_106.033
große Umwälzung der Geschichte, und die Einkehr in das Jnnere bereitete pgo_106.034
ein Leben des Geistes vor, von welchem die alte Zeit keine Ahnung hatte! pgo_106.035
Die romantische Kunstform ist zerflossen und unbestimmt! Man vergleiche

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lebendigen Gestalten bevölkerten Welt sehnte, muß sich auf jene Heiterkeit pgo_106.002
der Weltanschauung beschränken, die den Parnaß aller Zeiten so pgo_106.003
umschweben muß, wie sie den griechischen Olymp umschwebt. Der große pgo_106.004
heitere Sinn sei, auch in getrübter Zeit, dem Künstler eigen! Doch unserer pgo_106.005
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Begräbniß war daher den Alten wichtiger, als der Tod selbst — und pgo_106.017
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Der Gegensatz des plastischen Jdeals ist das romantische, das pgo_106.022
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[106/0128] pgo_106.001 lebendigen Gestalten bevölkerten Welt sehnte, muß sich auf jene Heiterkeit pgo_106.002 der Weltanschauung beschränken, die den Parnaß aller Zeiten so pgo_106.003 umschweben muß, wie sie den griechischen Olymp umschwebt. Der große pgo_106.004 heitere Sinn sei, auch in getrübter Zeit, dem Künstler eigen! Doch unserer pgo_106.005 Zeit die ungemilderte Strenge plastischer Formen aufzwingen, Helden pgo_106.006 und Heldinnen der griechischen Mythe auf die Bretter bannen und bei'm pgo_106.007 Zeus und Styx schwören zu lassen — das ist eine klägliche Wiedererweckung pgo_106.008 hellenischen Geistes, die gerade das verabsäumt, was sie von pgo_106.009 den großen Mustern vorzugsweise hätte lernen sollen! Jene Alten waren pgo_106.010 die Söhne ihrer Zeit, ihres Volkes bis in alle Schwächen, bis in jeden pgo_106.011 Aberglauben hinein — und sind doch und gerade deshalb unsterblich pgo_106.012 geworden! Oder stört es uns bei Sophokles, daß eine seiner Haupttragödieen pgo_106.013 „Antigone,“ auf jenem hellenischen Aberglauben beruht, nach pgo_106.014 welchem der Unbestattete auch im Schattenreiche keine Stätte fand und pgo_106.015 an den Fluthen des Styx Jahrhunderte lang umherirren mußte? Das pgo_106.016 Begräbniß war daher den Alten wichtiger, als der Tod selbst — und pgo_106.017 nur aus diesem Aberglauben erklärt sich die ganze Handlungsweise einer pgo_106.018 Antigone, erklärt sich die Fortsetzung der Tragödie „Ajax“ noch nach dem pgo_106.019 Tode des Helden! Sophokles dichtete aus der Weltanschauung seines pgo_106.020 Volkes heraus — thun wir dasselbe! pgo_106.021 Der Gegensatz des plastischen Jdeals ist das romantische, das pgo_106.022 Jdeal des Mittelalters, leise aufdämmernd in vorchristlicher Zeit in den pgo_106.023 altgermanischen Sagen, in den Riesenbildern der Edda und Ossian's pgo_106.024 Nebelgestalten, aber erst durch die Vermählung mit dem christlichen Geiste pgo_106.025 zu voller Pracht entfaltet! Hier ist alles Jnnerlichkeit, Glauben, Glorie, pgo_106.026 Empfindung — daneben aber geht unvermittelt die Rohheit der äußern pgo_106.027 Welt ihren Gang fort! Das keusche Minnelied und die derbste Liebespraxis, pgo_106.028 die heiligste Begeisterung z. B. der Kreuzfahrer und die brutalsten pgo_106.029 Ausschweifungen, innige Frömmigkeit und ungezähmte Raublust gehen pgo_106.030 Hand in Hand! Der heilige Choral in den Herzen, in den Fäusten die pgo_106.031 Brandfackel! Dennoch vollzog sich in dieser dunklen Epoche, wo die pgo_106.032 Begräbnißlampen des heiligen Grabes allein die Welt erleuchteten, eine pgo_106.033 große Umwälzung der Geschichte, und die Einkehr in das Jnnere bereitete pgo_106.034 ein Leben des Geistes vor, von welchem die alte Zeit keine Ahnung hatte! pgo_106.035 Die romantische Kunstform ist zerflossen und unbestimmt! Man vergleiche

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/128>, abgerufen am 24.11.2024.