Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_117.001
ahnungsvoll wehmüthig muthen uns diese einfachen, harmlosen Naturbetrachtungen pgo_117.002
an!

pgo_117.003
Am durchgreifendsten macht sich der Kontrast in der Gruppirung pgo_117.004
der Charaktere im Roman und Drama geltend! Die Jdee des Kunstwerkes pgo_117.005
bricht hier ihr Licht in einem Regenbogen von Farben. Die pgo_117.006
Gruppirung "des Unterschiedes" wiegt mehr im Roman, die "des Gegensatzes" pgo_117.007
mehr im Drama vor. Denn das letztere beruht auf dem Konflict, pgo_117.008
der von Hause aus zwei kämpfende Mächte scharf gegenüberstellt. Wie pgo_117.009
sanft harmonisch sind die Charaktergruppen in den Romanen "Jean pgo_117.010
Paul's" -- Victor, Flamin, Emanuel, Clotilde mit dem dissonirenden pgo_117.011
Matthieu im Hesperus -- der edle Albano und der leidenschaftlich blasirte pgo_117.012
Roquairol, die feurige Linda und die sanfte Liane im "Titan." Auch pgo_117.013
in "den Rittern vom Geiste" ist die Gruppirung der Charaktere von pgo_117.014
Meisterhand geordnet. Zunächst sondert ein durchgreifendes Princip die pgo_117.015
Gruppen, dann wieder ein milderer Kontrast die Einzelnen. Die Mädchen pgo_117.016
aus dem Volke, Louise Eisold und Franziska Heinisch, die Brüder pgo_117.017
Dankmar und Siegbert, die Amerikaner Ackermann und Murray, die pgo_117.018
feurige Olga, die liebliche Selma, die kokette Melanie, der epikuräische pgo_117.019
Schlurk und der cynische Hackert -- wie mannichfach ist die Stellung pgo_117.020
dieser Gruppen zu einander und zur Centralsonne, der Jdee des geistigen pgo_117.021
Ritterthums, die das ganze Werk beherrscht, wie kunstvoll schattirt aber pgo_117.022
auch die Uebergänge der einzelnen Glieder in den Gruppen! Der Kontrast pgo_117.023
setzt ein Princip der Einheit voraus, das von der verschiedensten Art sein pgo_117.024
kann. Eine solche Einheit bildet z. B. die Familie. Hier giebt der pgo_117.025
Unterschied der Charaktere das Motiv des Kontrastes, der z. B. in pgo_117.026
Dankmar und Siegbert sanft abgestuft, grell ausgeprägt in Karl und pgo_117.027
Franz Moor ist. Aber auch aus einem Parallelismus des Geschickes pgo_117.028
und aus einer Gegenbewegung desselben kann der Kontrast hervorgehn. pgo_117.029
So bei Murray und Ackermann, die Beide nach Amerika ausgewandert, pgo_117.030
Beide zurückgekehrt sind, die sich Beide Fehltritte der Liebe vorzuwerfen pgo_117.031
haben und nun Beide ihre Söhne wiederfinden. Das ist die pgo_117.032
Aehnlichkeit des Schicksals, aus welcher die Verschiedenheit der Charaktere pgo_117.033
als Kontrast hervorgeht. Der Kontrast darf indeß nicht grell und pgo_117.034
schreiend sein. Grell ist die Gruppirung der Charaktere z. B. in

pgo_117.001
ahnungsvoll wehmüthig muthen uns diese einfachen, harmlosen Naturbetrachtungen pgo_117.002
an!

pgo_117.003
Am durchgreifendsten macht sich der Kontrast in der Gruppirung pgo_117.004
der Charaktere im Roman und Drama geltend! Die Jdee des Kunstwerkes pgo_117.005
bricht hier ihr Licht in einem Regenbogen von Farben. Die pgo_117.006
Gruppirung „des Unterschiedes“ wiegt mehr im Roman, die „des Gegensatzes“ pgo_117.007
mehr im Drama vor. Denn das letztere beruht auf dem Konflict, pgo_117.008
der von Hause aus zwei kämpfende Mächte scharf gegenüberstellt. Wie pgo_117.009
sanft harmonisch sind die Charaktergruppen in den Romanen „Jean pgo_117.010
Paul's“ — Victor, Flamin, Emanuel, Clotilde mit dem dissonirenden pgo_117.011
Matthieu im Hesperus — der edle Albano und der leidenschaftlich blasirte pgo_117.012
Roquairol, die feurige Linda und die sanfte Liane im „Titan.“ Auch pgo_117.013
in „den Rittern vom Geiste“ ist die Gruppirung der Charaktere von pgo_117.014
Meisterhand geordnet. Zunächst sondert ein durchgreifendes Princip die pgo_117.015
Gruppen, dann wieder ein milderer Kontrast die Einzelnen. Die Mädchen pgo_117.016
aus dem Volke, Louise Eisold und Franziska Heinisch, die Brüder pgo_117.017
Dankmar und Siegbert, die Amerikaner Ackermann und Murray, die pgo_117.018
feurige Olga, die liebliche Selma, die kokette Melanie, der epikuräische pgo_117.019
Schlurk und der cynische Hackert — wie mannichfach ist die Stellung pgo_117.020
dieser Gruppen zu einander und zur Centralsonne, der Jdee des geistigen pgo_117.021
Ritterthums, die das ganze Werk beherrscht, wie kunstvoll schattirt aber pgo_117.022
auch die Uebergänge der einzelnen Glieder in den Gruppen! Der Kontrast pgo_117.023
setzt ein Princip der Einheit voraus, das von der verschiedensten Art sein pgo_117.024
kann. Eine solche Einheit bildet z. B. die Familie. Hier giebt der pgo_117.025
Unterschied der Charaktere das Motiv des Kontrastes, der z. B. in pgo_117.026
Dankmar und Siegbert sanft abgestuft, grell ausgeprägt in Karl und pgo_117.027
Franz Moor ist. Aber auch aus einem Parallelismus des Geschickes pgo_117.028
und aus einer Gegenbewegung desselben kann der Kontrast hervorgehn. pgo_117.029
So bei Murray und Ackermann, die Beide nach Amerika ausgewandert, pgo_117.030
Beide zurückgekehrt sind, die sich Beide Fehltritte der Liebe vorzuwerfen pgo_117.031
haben und nun Beide ihre Söhne wiederfinden. Das ist die pgo_117.032
Aehnlichkeit des Schicksals, aus welcher die Verschiedenheit der Charaktere pgo_117.033
als Kontrast hervorgeht. Der Kontrast darf indeß nicht grell und pgo_117.034
schreiend sein. Grell ist die Gruppirung der Charaktere z. B. in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0139" n="117"/><lb n="pgo_117.001"/>
ahnungsvoll wehmüthig muthen uns diese einfachen, harmlosen Naturbetrachtungen <lb n="pgo_117.002"/>
an!</p>
              <p><lb n="pgo_117.003"/>
Am durchgreifendsten macht sich der Kontrast in der <hi rendition="#g">Gruppirung</hi> <lb n="pgo_117.004"/>
der Charaktere im Roman und Drama geltend! Die Jdee des Kunstwerkes <lb n="pgo_117.005"/>
bricht hier ihr Licht in einem Regenbogen von Farben. Die <lb n="pgo_117.006"/>
Gruppirung &#x201E;des Unterschiedes&#x201C; wiegt mehr im Roman, die &#x201E;des Gegensatzes&#x201C; <lb n="pgo_117.007"/>
mehr im Drama vor. Denn das letztere beruht auf dem Konflict, <lb n="pgo_117.008"/>
der von Hause aus zwei kämpfende Mächte scharf gegenüberstellt. Wie <lb n="pgo_117.009"/>
sanft harmonisch sind die Charaktergruppen in den Romanen &#x201E;Jean <lb n="pgo_117.010"/>
Paul's&#x201C; &#x2014; Victor, Flamin, Emanuel, Clotilde mit dem dissonirenden <lb n="pgo_117.011"/>
Matthieu im Hesperus &#x2014; der edle Albano und der leidenschaftlich blasirte <lb n="pgo_117.012"/>
Roquairol, die feurige Linda und die sanfte Liane im &#x201E;Titan.&#x201C; Auch <lb n="pgo_117.013"/>
in &#x201E;den Rittern vom Geiste&#x201C; ist die Gruppirung der Charaktere von <lb n="pgo_117.014"/>
Meisterhand geordnet. Zunächst sondert ein durchgreifendes Princip die <lb n="pgo_117.015"/>
Gruppen, dann wieder ein milderer Kontrast die Einzelnen. Die Mädchen <lb n="pgo_117.016"/>
aus dem Volke, Louise Eisold und Franziska Heinisch, die Brüder <lb n="pgo_117.017"/>
Dankmar und Siegbert, die Amerikaner Ackermann und Murray, die <lb n="pgo_117.018"/>
feurige Olga, die liebliche Selma, die kokette Melanie, der epikuräische <lb n="pgo_117.019"/>
Schlurk und der cynische Hackert &#x2014; wie mannichfach ist die Stellung <lb n="pgo_117.020"/>
dieser Gruppen zu einander und zur Centralsonne, der Jdee des geistigen <lb n="pgo_117.021"/>
Ritterthums, die das ganze Werk beherrscht, wie kunstvoll schattirt aber <lb n="pgo_117.022"/>
auch die Uebergänge der einzelnen Glieder in den Gruppen! Der Kontrast <lb n="pgo_117.023"/>
setzt ein Princip der Einheit voraus, das von der verschiedensten Art sein <lb n="pgo_117.024"/>
kann. Eine solche Einheit bildet z. B. die Familie. Hier giebt der <lb n="pgo_117.025"/>
Unterschied der Charaktere das Motiv des Kontrastes, der z. B. in <lb n="pgo_117.026"/>
Dankmar und Siegbert sanft abgestuft, grell ausgeprägt in Karl und <lb n="pgo_117.027"/>
Franz Moor ist. Aber auch aus einem Parallelismus des Geschickes <lb n="pgo_117.028"/>
und aus einer Gegenbewegung desselben kann der Kontrast hervorgehn. <lb n="pgo_117.029"/>
So bei <hi rendition="#g">Murray</hi> und <hi rendition="#g">Ackermann,</hi> die Beide nach Amerika ausgewandert, <lb n="pgo_117.030"/>
Beide zurückgekehrt sind, die sich Beide Fehltritte der Liebe vorzuwerfen <lb n="pgo_117.031"/>
haben und nun Beide ihre Söhne wiederfinden. Das ist die <lb n="pgo_117.032"/>
Aehnlichkeit des Schicksals, aus welcher die Verschiedenheit der Charaktere <lb n="pgo_117.033"/>
als <hi rendition="#g">Kontrast</hi> hervorgeht. Der Kontrast darf indeß nicht <hi rendition="#g">grell</hi> und <lb n="pgo_117.034"/> <hi rendition="#g">schreiend</hi> sein. Grell ist die Gruppirung der Charaktere z. B. in
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0139] pgo_117.001 ahnungsvoll wehmüthig muthen uns diese einfachen, harmlosen Naturbetrachtungen pgo_117.002 an! pgo_117.003 Am durchgreifendsten macht sich der Kontrast in der Gruppirung pgo_117.004 der Charaktere im Roman und Drama geltend! Die Jdee des Kunstwerkes pgo_117.005 bricht hier ihr Licht in einem Regenbogen von Farben. Die pgo_117.006 Gruppirung „des Unterschiedes“ wiegt mehr im Roman, die „des Gegensatzes“ pgo_117.007 mehr im Drama vor. Denn das letztere beruht auf dem Konflict, pgo_117.008 der von Hause aus zwei kämpfende Mächte scharf gegenüberstellt. Wie pgo_117.009 sanft harmonisch sind die Charaktergruppen in den Romanen „Jean pgo_117.010 Paul's“ — Victor, Flamin, Emanuel, Clotilde mit dem dissonirenden pgo_117.011 Matthieu im Hesperus — der edle Albano und der leidenschaftlich blasirte pgo_117.012 Roquairol, die feurige Linda und die sanfte Liane im „Titan.“ Auch pgo_117.013 in „den Rittern vom Geiste“ ist die Gruppirung der Charaktere von pgo_117.014 Meisterhand geordnet. Zunächst sondert ein durchgreifendes Princip die pgo_117.015 Gruppen, dann wieder ein milderer Kontrast die Einzelnen. Die Mädchen pgo_117.016 aus dem Volke, Louise Eisold und Franziska Heinisch, die Brüder pgo_117.017 Dankmar und Siegbert, die Amerikaner Ackermann und Murray, die pgo_117.018 feurige Olga, die liebliche Selma, die kokette Melanie, der epikuräische pgo_117.019 Schlurk und der cynische Hackert — wie mannichfach ist die Stellung pgo_117.020 dieser Gruppen zu einander und zur Centralsonne, der Jdee des geistigen pgo_117.021 Ritterthums, die das ganze Werk beherrscht, wie kunstvoll schattirt aber pgo_117.022 auch die Uebergänge der einzelnen Glieder in den Gruppen! Der Kontrast pgo_117.023 setzt ein Princip der Einheit voraus, das von der verschiedensten Art sein pgo_117.024 kann. Eine solche Einheit bildet z. B. die Familie. Hier giebt der pgo_117.025 Unterschied der Charaktere das Motiv des Kontrastes, der z. B. in pgo_117.026 Dankmar und Siegbert sanft abgestuft, grell ausgeprägt in Karl und pgo_117.027 Franz Moor ist. Aber auch aus einem Parallelismus des Geschickes pgo_117.028 und aus einer Gegenbewegung desselben kann der Kontrast hervorgehn. pgo_117.029 So bei Murray und Ackermann, die Beide nach Amerika ausgewandert, pgo_117.030 Beide zurückgekehrt sind, die sich Beide Fehltritte der Liebe vorzuwerfen pgo_117.031 haben und nun Beide ihre Söhne wiederfinden. Das ist die pgo_117.032 Aehnlichkeit des Schicksals, aus welcher die Verschiedenheit der Charaktere pgo_117.033 als Kontrast hervorgeht. Der Kontrast darf indeß nicht grell und pgo_117.034 schreiend sein. Grell ist die Gruppirung der Charaktere z. B. in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/139
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/139>, abgerufen am 21.11.2024.