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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Die Gudrunstrophe dagegen lautet:

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Es war in den Tagen, da der Winter Abschied nimmt, pgo_235.003
Und der Vogel mit Zagen die Kehle wieder stimmt, pgo_235.004
Daß er singe seine Weise, wenn der März entschwunden, pgo_235.005
Jn Schnee und im Eise wurden die armen Waisen gefunden.

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Ohne Frage hat die Nibelungenstrophe sowohl die nöthige epische pgo_235.007
Geräumigkeit, als auch eine malerische Mannichfaltigkeit des Rhythmus. pgo_235.008
Sie kann trochäisch, jambisch, anapästisch erklingen; sie kann durch das pgo_235.009
Fortlassen der Senkung, durch das Zusammenprallen zweier Längen scharf pgo_235.010
und charakteristisch markiren! Dennoch entspricht ihre Anwendung in der pgo_235.011
alten Gestalt nicht mehr den Gesetzen des modernen deutschen Versbaues, pgo_235.012
seit er sich nach antikem Vorbilde fortentwickelt. Ein Ohr, das blos an pgo_235.013
Hebungen und Senkungen gewöhnt ist, wird in der Nibelungenstrophe pgo_235.014
jene Gleichmäßigkeit des Rhythmus heraushören, welche ein feiner gebildetes pgo_235.015
Ohr vermißt, das an den jambischen oder trochäischen Tonfall pgo_235.016
gewöhnt ist. Die Mannichfaltigkeit der alten Nibelungenstrophe hat pgo_235.017
etwas zu Buntscheckiges, wenn sie nicht am rhythmischen Spalier der pgo_235.018
Neuzeit in die Höhe gerankt wird.

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Zunächst wird der neue Nibelungenvers den jambischen Charakter pgo_235.020
festhalten müssen, indem er erst durch ihn ein einheitliches Gepräge erhält. pgo_235.021
Der Jambus darf aber auch mit dem Anapäst wechseln. Die weibliche pgo_235.022
Cäsur der Mitte unterscheidet die moderne Nibelungenstrophe hinlänglich pgo_235.023
vom Alexandriner.

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Es stand in alten Zeiten || ein Schloß so hoch und hehr, pgo_235.025
Weit glänzt' es über die Lande || bis an das blaue Meer, pgo_235.026
Und rings von duft'gen Gärten || ein blüthenreicher Kranz, pgo_235.027
Drin sprangen frische Bronnen || im Regenbogenglanz.
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Uhland.

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Eine größere Beweglichkeit erhält die Strophe, wenn man nach ihrem pgo_235.030
altgermanischen Vorbilde der zweiten Hälfte der vierten Verszeile vier pgo_235.031
Füße giebt. So hat sie Strachwitz meisterhaft in: "Hie Welf" pgo_235.032
behandelt:

pgo_235.033
Fürwahr, ihr Longobarden, das war ein schwerer Tritt, pgo_235.034
Den Friedrich Barbarossa durch Mailands Bresche ritt, pgo_235.035
Licht war das Roß des Kaisers, ein Schimmel von Geburt, pgo_235.036
Das war mit welschem Blute gescheckt bis über den Sattelgurt.

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Die Gudrunstrophe dagegen lautet:

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Es war in den Tagen, da der Winter Abschied nimmt, pgo_235.003
Und der Vogel mit Zagen die Kehle wieder stimmt, pgo_235.004
Daß er singe seine Weise, wenn der März entschwunden, pgo_235.005
Jn Schnee und im Eise wurden die armen Waisen gefunden.

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Ohne Frage hat die Nibelungenstrophe sowohl die nöthige epische pgo_235.007
Geräumigkeit, als auch eine malerische Mannichfaltigkeit des Rhythmus. pgo_235.008
Sie kann trochäisch, jambisch, anapästisch erklingen; sie kann durch das pgo_235.009
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Ohr vermißt, das an den jambischen oder trochäischen Tonfall pgo_235.016
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etwas zu Buntscheckiges, wenn sie nicht am rhythmischen Spalier der pgo_235.018
Neuzeit in die Höhe gerankt wird.

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Zunächst wird der neue Nibelungenvers den jambischen Charakter pgo_235.020
festhalten müssen, indem er erst durch ihn ein einheitliches Gepräge erhält. pgo_235.021
Der Jambus darf aber auch mit dem Anapäst wechseln. Die weibliche pgo_235.022
Cäsur der Mitte unterscheidet die moderne Nibelungenstrophe hinlänglich pgo_235.023
vom Alexandriner.

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Es stand in alten Zeiten ‖ ein Schloß so hoch und hehr, pgo_235.025
Weit glänzt' es über die Lande ‖ bis an das blaue Meer, pgo_235.026
Und rings von duft'gen Gärten ‖ ein blüthenreicher Kranz, pgo_235.027
Drin sprangen frische Bronnen ‖ im Regenbogenglanz.
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Uhland.

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Eine größere Beweglichkeit erhält die Strophe, wenn man nach ihrem pgo_235.030
altgermanischen Vorbilde der zweiten Hälfte der vierten Verszeile vier pgo_235.031
Füße giebt. So hat sie Strachwitz meisterhaft in: „Hie Welfpgo_235.032
behandelt:

pgo_235.033
Fürwahr, ihr Longobarden, das war ein schwerer Tritt, pgo_235.034
Den Friedrich Barbarossa durch Mailands Bresche ritt, pgo_235.035
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[235/0257] pgo_235.001 Die Gudrunstrophe dagegen lautet: pgo_235.002 Es war in den Tagen, da der Winter Abschied nimmt, pgo_235.003 Und der Vogel mit Zagen die Kehle wieder stimmt, pgo_235.004 Daß er singe seine Weise, wenn der März entschwunden, pgo_235.005 Jn Schnee und im Eise wurden die armen Waisen gefunden. pgo_235.006 Ohne Frage hat die Nibelungenstrophe sowohl die nöthige epische pgo_235.007 Geräumigkeit, als auch eine malerische Mannichfaltigkeit des Rhythmus. pgo_235.008 Sie kann trochäisch, jambisch, anapästisch erklingen; sie kann durch das pgo_235.009 Fortlassen der Senkung, durch das Zusammenprallen zweier Längen scharf pgo_235.010 und charakteristisch markiren! Dennoch entspricht ihre Anwendung in der pgo_235.011 alten Gestalt nicht mehr den Gesetzen des modernen deutschen Versbaues, pgo_235.012 seit er sich nach antikem Vorbilde fortentwickelt. Ein Ohr, das blos an pgo_235.013 Hebungen und Senkungen gewöhnt ist, wird in der Nibelungenstrophe pgo_235.014 jene Gleichmäßigkeit des Rhythmus heraushören, welche ein feiner gebildetes pgo_235.015 Ohr vermißt, das an den jambischen oder trochäischen Tonfall pgo_235.016 gewöhnt ist. Die Mannichfaltigkeit der alten Nibelungenstrophe hat pgo_235.017 etwas zu Buntscheckiges, wenn sie nicht am rhythmischen Spalier der pgo_235.018 Neuzeit in die Höhe gerankt wird. pgo_235.019 Zunächst wird der neue Nibelungenvers den jambischen Charakter pgo_235.020 festhalten müssen, indem er erst durch ihn ein einheitliches Gepräge erhält. pgo_235.021 Der Jambus darf aber auch mit dem Anapäst wechseln. Die weibliche pgo_235.022 Cäsur der Mitte unterscheidet die moderne Nibelungenstrophe hinlänglich pgo_235.023 vom Alexandriner. pgo_235.024 Es stand in alten Zeiten ‖ ein Schloß so hoch und hehr, pgo_235.025 Weit glänzt' es über die Lande ‖ bis an das blaue Meer, pgo_235.026 Und rings von duft'gen Gärten ‖ ein blüthenreicher Kranz, pgo_235.027 Drin sprangen frische Bronnen ‖ im Regenbogenglanz. pgo_235.028 Uhland. pgo_235.029 Eine größere Beweglichkeit erhält die Strophe, wenn man nach ihrem pgo_235.030 altgermanischen Vorbilde der zweiten Hälfte der vierten Verszeile vier pgo_235.031 Füße giebt. So hat sie Strachwitz meisterhaft in: „Hie Welf“ pgo_235.032 behandelt: pgo_235.033 Fürwahr, ihr Longobarden, das war ein schwerer Tritt, pgo_235.034 Den Friedrich Barbarossa durch Mailands Bresche ritt, pgo_235.035 Licht war das Roß des Kaisers, ein Schimmel von Geburt, pgo_235.036 Das war mit welschem Blute gescheckt bis über den Sattelgurt.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/257>, abgerufen am 22.11.2024.