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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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daher nur in der Weise eines Cyklus zusammensetzen können, in welchem pgo_256.002
sich an einen Grundton eine ganze Skala von Stimmungen anreiht, in pgo_256.003
denen jeder Ton wieder der Grundton einer neuen Skala werden kann. pgo_256.004
Man kann lyrische Blumen zum Kranz winden, aber jede Blume hat ihr pgo_256.005
eigenes Recht, und der Accent ruht weniger auf dem Kranz, als auf der pgo_256.006
einzelnen Blume. Diese Vereinzelung gehört zum Wesen der pgo_256.007
Lyrik. Platen feiert Venedig in einem Sonettenkranz; der Grundton pgo_256.008
der Stimmung geht durch alle; aber es ist bald dieses, bald jenes Bild pgo_256.009
der Lagunenstadt, an das er seine dichterischen Reflexionen knüpft. Grün pgo_256.010
hat im "Schutt" vier Cyklen zu einem großen Cyklus vereint; aber in pgo_256.011
jedem ist es eine Reihenfolge einzelner Stimmungen und Bilder, die alle pgo_256.012
wieder eine selbstständige Bedeutung haben. Ein lyrischer Cyklus ist kein pgo_256.013
Organismus, den man seiner einzelnen Glieder nicht ohne Gefahr für pgo_256.014
das Ganze berauben könnte; im Gegentheil, gleich den niederen Klassen pgo_256.015
der Natur, hat jedes losgetrennte Glied des Ganzen sein eigenes Leben.

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Die Einheit des lyrischen Gedichts ist von der des epischen und pgo_256.017
dramatischen wesentlich verschieden; der Begriff der Episode findet hier pgo_256.018
keinen Platz. Die Einheit ist nur eine Einheit der Stimmung und pgo_256.019
des Tons, welche die verschiedenartigsten Vorstellungen beherrschen kann. pgo_256.020
Ein Herausfallen aus dem Grundton wäre nicht episodisch, sondern ein pgo_256.021
Fehler, während auf der anderen Seite auch die entlegenste Kette von pgo_256.022
Vorstellungen keinen episodischen Charakter annimmt, wenn sie mit der pgo_256.023
Grundstimmung des Dichters zusammenhängt und auf sie zurückgeführt pgo_256.024
werden kann. Um das Räthsel der lyrischen Produktion zu lösen, muß pgo_256.025
man sich auf den psychologischen Standpunkt stellen. Man beobachte das pgo_256.026
eigene Gemüth, wenn es von einer Empfindung erregt und beherrscht pgo_256.027
wird! Welchen Träumereien giebt es sich hin! Welche Reihen von Vorstellungen pgo_256.028
gaukeln an ihm vorüber! Wie zufällig ist der Uebergang von pgo_256.029
der einen zur andern, wie locker ihre Verknüpfung! Wie verweilt es bei pgo_256.030
der einen mit ausmalender Geschäftigkeit, während es über die andere im pgo_256.031
Fluge hinwegeilt! Je reicher und lebendiger die Phantasie, desto glänzender, pgo_256.032
unerschöpflicher wird die Menge der Vorstellungen sein, welche sie pgo_256.033
der Empfindung zuführt; doch diese Empfindung selbst bleibt immer der pgo_256.034
Kern, an den die krystallinischen Gebilde der Phantasie anschießen. Jn pgo_256.035
diesen Träumereien des erregten Gemüthes finden wir das Vorbild des

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Die Einheit des lyrischen Gedichts ist von der des epischen und pgo_256.017
dramatischen wesentlich verschieden; der Begriff der Episode findet hier pgo_256.018
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Fehler, während auf der anderen Seite auch die entlegenste Kette von pgo_256.022
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werden kann. Um das Räthsel der lyrischen Produktion zu lösen, muß pgo_256.025
man sich auf den psychologischen Standpunkt stellen. Man beobachte das pgo_256.026
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unerschöpflicher wird die Menge der Vorstellungen sein, welche sie pgo_256.033
der Empfindung zuführt; doch diese Empfindung selbst bleibt immer der pgo_256.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/278>, abgerufen am 22.11.2024.