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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Orakel für alles Geschehen ertönen kann. Nicht nur die Propheten des pgo_267.002
alten Testamentes waren großartige Dichter, vor deren energischem Tiefblick pgo_267.003
der Schleier der Zukunft zerriß, weil die innere Nothwendigkeit der pgo_267.004
geschichtlichen Entwickelung in ihrer Seele lebendig war; auch in jüngster pgo_267.005
Zeit hat die politische Lyrik unleugbare visionaire Anwandlungen gehabt. pgo_267.006
Jm Heute spiegelt sich immer das Morgen, wenn eine große Seele es in pgo_267.007
seiner ganzen Tiefe erfaßt.

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Was nun die Art und Weise des lyrischen Schaffens betrifft, so ist es pgo_267.009
keinesweges erforderlich, ja nur wünschenswerth, daß der Lyriker im pgo_267.010
unmittelbaren Drang und Sturm der Empfindung dichte. Es ist mit pgo_267.011
Recht behauptet worden, daß die Hand, die vom Fieber zittre, es nicht pgo_267.012
schildern könne. Der Affekt hat eine ungeläuterte Natürlichkeit, die ihrer pgo_267.013
eigenen Schwere folgt. Die Leidenschaft muß erst durch das Sieb pgo_267.014
geschüttelt werden, eh' sie poetisch verwendet werden kann. Alles Dichten pgo_267.015
setzt eine geistige Reproduktion voraus. Unähnlich dem physikalischen pgo_267.016
Gesetz, nach welchem mehrfache Spiegelung das Bild verrückt, sind die pgo_267.017
Spiegelungen der Empfindung für die Klarheit und Harmonie des dichterischen pgo_267.018
Bildes vortheilhaft. Der Dichter muß immer die Empfindung pgo_267.019
in die Vorstellung umsetzen. Es genügt für ihn, eine Stimmung einmal pgo_267.020
durchempfunden zu haben -- um sie, vielleicht nach langer Zeit, dichterisch pgo_267.021
wiederzugeben. Die Erinnerung hat etwas von jener Jdealität, welche pgo_267.022
aller Kunst eigen ist. Ja, es giebt Stimmungen und Empfindungen, pgo_267.023
deren trüber Most sich erst nach Jahren in den edlen Wein der Dichtung pgo_267.024
verwandeln kann. Solche unausgegohrenen Seelenzustände gleich dichterisch pgo_267.025
zu verpichen und zu verschicken, kann der Firma verderblich werden. pgo_267.026
Aehnlich verhält es sich mit dem eigenen Erlebniß, das oft erst nach pgo_267.027
jahrelangem Verlaufe für den Dichter einen Schimmer der Verklärung pgo_267.028
gewinnt. Dann aber hat das Thatsächliche längst seine Bestimmtheit pgo_267.029
eingebüßt; was damals wirklich oder nur möglich, was äußerer Vorgang pgo_267.030
oder Vorgang in der Seele des Dichters war, ist für diesen selbst gleichgültig pgo_267.031
geworden, da er sich nur in die Stimmung jener Zeit zurückversetzt pgo_267.032
und aus ihrem dunkeln Schacht seine Juwelen gräbt. Ueberhaupt duldet pgo_267.033
die Lyrik keine Prosa der Thatsachen! Selbst wo sie die nächste Gegenwart pgo_267.034
erfaßt, verwandelt sich Alles unter ihren Händen; sie respektirt kein pgo_267.035
Signalement, keine besondern Kennzeichen der Personen und Dinge.

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Orakel für alles Geschehen ertönen kann. Nicht nur die Propheten des pgo_267.002
alten Testamentes waren großartige Dichter, vor deren energischem Tiefblick pgo_267.003
der Schleier der Zukunft zerriß, weil die innere Nothwendigkeit der pgo_267.004
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Zeit hat die politische Lyrik unleugbare visionaire Anwandlungen gehabt. pgo_267.006
Jm Heute spiegelt sich immer das Morgen, wenn eine große Seele es in pgo_267.007
seiner ganzen Tiefe erfaßt.

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Was nun die Art und Weise des lyrischen Schaffens betrifft, so ist es pgo_267.009
keinesweges erforderlich, ja nur wünschenswerth, daß der Lyriker im pgo_267.010
unmittelbaren Drang und Sturm der Empfindung dichte. Es ist mit pgo_267.011
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Aehnlich verhält es sich mit dem eigenen Erlebniß, das oft erst nach pgo_267.027
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und aus ihrem dunkeln Schacht seine Juwelen gräbt. Ueberhaupt duldet pgo_267.033
die Lyrik keine Prosa der Thatsachen! Selbst wo sie die nächste Gegenwart pgo_267.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/289>, abgerufen am 22.11.2024.