pgo_288.001 Welt untergegangener Sagen hat einen literarischen und wissenschaftlichen pgo_288.002 Reiz; aber dieser Reiz ist unfruchtbar für die echte Volkspoesie der pgo_288.003 Gegenwart. Solch' eine Haudegen-Ballade, wie: "des Deutschritters pgo_288.004 Ave" von Geibel kann in unserer Zeit keine Sympathieen erwecken. pgo_288.005 Dichter, wie Burns und Thomas Moore, schöpfen zwar aus dem pgo_288.006 schottischen und irischen Volksleben; aber sie wissen doch der Sage eine pgo_288.007 echt menschliche und dauernde Bedeutung zu geben und sie ganz in die pgo_288.008 Empfindung des Herzens aufzulösen. Jndeß finden wir bei Letzterem pgo_288.009 schon die Ansätze zu einer modernen Ballade! Beranger in einzelnen pgo_288.010 episch gefärbten Chansons, Heine in seinen meisterhaften "Grenadieren," pgo_288.011 Zedlitz in der "nächtigen Heerschau" haben mit Glück die Bahn betreten, pgo_288.012 die zu einer Verjüngung der Ballade führt. Das jüngste Zeitalter pgo_288.013 ist reich genug an großartigen Reminiscenzen, welche ein begabter Dichter pgo_288.014 in stimmungsvollen und sangbaren Balladen verwerthen kann -- und so pgo_288.015 wenig ein französischer Grenadier der großen Armee unsere nationalen pgo_288.016 Sympathieen besitzt, so versetzt er uns doch eher in eine dichterisch sympathetische pgo_288.017 Stimmung, als ein alter Deutschritter, der einem Litthauer- pgo_288.018 Häuptling den Schädel spaltet. Jene düstern schottischen Balladendichter pgo_288.019 haben aus der Stimmung ihrer Zeit herausgedichtet -- dichten wir so pgo_288.020 aus der unsrigen heraus! Haben wir den Muth, alle akademischen Exercitien pgo_288.021 zu vermeiden, ob sie in Nachdichtungen der Römer und Griechen pgo_288.022 oder der eigenen durch die germanistischen Studien galvanisirten Volkspoesie pgo_288.023 bestehen. Nur aus der Stimmung unseres Jahrhunderts heraus pgo_288.024 wird die echte Ballade gesungen, mag sie, wie oft bei Heine, das pgo_288.025 eigene Erlebniß liederartig gestalten oder irgend eine Begebenheit des pgo_288.026 socialen und politischen Lebens, aus der Fülle des eigenen Herzens wiedergeboren, pgo_288.027 in frischem Liederquell hervorsprudeln lassen!
pgo_288.028 3. Das erhabene und komische Lied.
pgo_288.029 Obgleich sich das Lied meistens in der reinen Mitte des einfach pgo_288.030 Schönen bewegt, so kann es sich doch auch den erhabenen und komischen pgo_288.031 Stoff aneignen. Das religiöse Lied unterscheidet sich von der Hymne pgo_288.032 dadurch, daß es den erhabenen Gegenstand nicht in seiner Erhabenheit pgo_288.033 feiert, sondern die hingebende, andachtsvolle Stimmung des eigenen pgo_288.034 Gemüthes, das Gefühl der Getragenheit durch eine höhere Macht, in
pgo_288.001 Welt untergegangener Sagen hat einen literarischen und wissenschaftlichen pgo_288.002 Reiz; aber dieser Reiz ist unfruchtbar für die echte Volkspoesie der pgo_288.003 Gegenwart. Solch' eine Haudegen-Ballade, wie: „des Deutschritters pgo_288.004 Ave“ von Geibel kann in unserer Zeit keine Sympathieen erwecken. pgo_288.005 Dichter, wie Burns und Thomas Moore, schöpfen zwar aus dem pgo_288.006 schottischen und irischen Volksleben; aber sie wissen doch der Sage eine pgo_288.007 echt menschliche und dauernde Bedeutung zu geben und sie ganz in die pgo_288.008 Empfindung des Herzens aufzulösen. Jndeß finden wir bei Letzterem pgo_288.009 schon die Ansätze zu einer modernen Ballade! Béranger in einzelnen pgo_288.010 episch gefärbten Chansons, Heine in seinen meisterhaften „Grenadieren,“ pgo_288.011 Zedlitz in der „nächtigen Heerschau“ haben mit Glück die Bahn betreten, pgo_288.012 die zu einer Verjüngung der Ballade führt. Das jüngste Zeitalter pgo_288.013 ist reich genug an großartigen Reminiscenzen, welche ein begabter Dichter pgo_288.014 in stimmungsvollen und sangbaren Balladen verwerthen kann — und so pgo_288.015 wenig ein französischer Grenadier der großen Armee unsere nationalen pgo_288.016 Sympathieen besitzt, so versetzt er uns doch eher in eine dichterisch sympathetische pgo_288.017 Stimmung, als ein alter Deutschritter, der einem Litthauer- pgo_288.018 Häuptling den Schädel spaltet. Jene düstern schottischen Balladendichter pgo_288.019 haben aus der Stimmung ihrer Zeit herausgedichtet — dichten wir so pgo_288.020 aus der unsrigen heraus! Haben wir den Muth, alle akademischen Exercitien pgo_288.021 zu vermeiden, ob sie in Nachdichtungen der Römer und Griechen pgo_288.022 oder der eigenen durch die germanistischen Studien galvanisirten Volkspoesie pgo_288.023 bestehen. Nur aus der Stimmung unseres Jahrhunderts heraus pgo_288.024 wird die echte Ballade gesungen, mag sie, wie oft bei Heine, das pgo_288.025 eigene Erlebniß liederartig gestalten oder irgend eine Begebenheit des pgo_288.026 socialen und politischen Lebens, aus der Fülle des eigenen Herzens wiedergeboren, pgo_288.027 in frischem Liederquell hervorsprudeln lassen!
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pgo_288.029 Obgleich sich das Lied meistens in der reinen Mitte des einfach pgo_288.030 Schönen bewegt, so kann es sich doch auch den erhabenen und komischen pgo_288.031 Stoff aneignen. Das religiöse Lied unterscheidet sich von der Hymne pgo_288.032 dadurch, daß es den erhabenen Gegenstand nicht in seiner Erhabenheit pgo_288.033 feiert, sondern die hingebende, andachtsvolle Stimmung des eigenen pgo_288.034 Gemüthes, das Gefühl der Getragenheit durch eine höhere Macht, in
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/310>, abgerufen am 24.11.2024.
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