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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Flemming, Dach, Tscherning folgten seinem Beispiele, und pgo_314.002
Emanuel Geibel bewies in seinem Gedicht: "Welt und Einsamkeit," pgo_314.003
daß die moderne Reflexions-Lyrik auch den Alexandriner in dieser pgo_314.004
Weise wohl verwenden kann:

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O rühmet immerhin mir eure lauten Feste, pgo_314.006
Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt; pgo_314.007
Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste, pgo_314.008
Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt, pgo_314.009
Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken, pgo_314.010
So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt; pgo_314.011
Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken, pgo_314.012
Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken pgo_314.013
Vielfarbig auf in's Dunkel zischt.

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Die kunstvollere Gliederung der Strophe, die gegen den Schluß hin pgo_314.015
im dreifachen weiblichen Reime voller austönt, um dann im vierfüßigen pgo_314.016
Jambus zu erlöschen, giebt zugleich ein Beispiel, welche mannichfachen pgo_314.017
Variationen strophischer Bildung der Alexandriner verträgt, und wie pgo_314.018
dieser von Freiligrath bereits zu kühneren und abwechselnden Sprüngen pgo_314.019
dressirte Vers ein gefügiger Träger der modernen Reflexion werden kann.

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Die aus dem Orient überkommenen Strophen, wie z. B. die pgo_314.021
Ghaselen, sind zu kindlich und monoton und zwingen den Gedanken pgo_314.022
unwillkürlich zu rasch wiederkehrenden Parallelismen, so daß sie sich pgo_314.023
wohl zum Aufreihen einer didaktischen Perlenschnur eignen, aber den pgo_314.024
freieren Flug der Schilderung und sinnigen Betrachtung lähmen. Anders pgo_314.025
verhält es sich mit der melodischen Architektonik der italienischen Strophenformen, pgo_314.026
des Sonettes und der Kanzone. Als Beispiele, wie vortrefflich pgo_314.027
die moderne Gedankenlyrik diese romanischen Formen verwenden kann, pgo_314.028
erwähnen wir Platen's Sonette auf "Venedig" und Max Waldau's pgo_314.029
Kanzone: "O diese Zeit." Jn beiden ist nicht nur die Form meisterhaft pgo_314.030
gehandhabt, sondern auch der Ausdruck elegischer Reflexion in mustergültiger pgo_314.031
Weise getroffen. Dennoch können wir diese italienischen Strophenformen pgo_314.032
für größere Cyklen nicht unbedingt empfehlen, da sie auf die pgo_314.033
Länge durch ihre üppige Reimfülle ermüden. Der fünffüßige Jambus, pgo_314.034
in freier Reimverschlingung oder strophisch geschult, wie ihn Schiller in pgo_314.035
den "Göttern Griechenlands," Grün im "Schutt," Lenau in "Glauben, pgo_314.036
Wissen, Handeln" sogar mit daktylischer Unterbrechung, Leopold Schefer

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/336>, abgerufen am 24.11.2024.