pgo_013.001 Haben sie doch in ihrem "Briefwechsel" die folgenreichsten Betrachtungen pgo_013.002 über epische und dramatische Poesie zusammen niedergelegt pgo_013.003 und zusammen in ihren "Xenien" den kritischen Jmperatorenthron pgo_013.004 errichtet, von dem sie den Föderalismus der deutschen Literatur in pgo_013.005 den Staub schmetterten. Daß Schiller von der Jdee des Schönen pgo_013.006 und Goethe von seiner Erscheinung ausging, war gerade der Grund, pgo_013.007 daß sie in der Mitte des Weges sich begegnen mußten! Schiller schrieb pgo_013.008 den allgemeineren Theil der "klassischen Poetik;" er war ihr Metaphysiker. pgo_013.009 Jn der That sind seine ästhetischen Verdienste groß genug, pgo_013.010 um ihm in dieser Wissenschaft einen selbstständigen Platz zu sichern. pgo_013.011 Er hob die Einseitigkeit des subjectiven Kant'schen Standpunktes auf pgo_013.012 und machte zuerst die Jdee der Schönheit in ihrer freien Selbstständigkeit pgo_013.013 geltend. Jn seinen Aufsätzen: "über die tragische Kunst," pgo_013.014 "über das Erhabene," "Anmuth und Würde" entwickelt er pgo_013.015 dieselben Jdeeen, die er mit dichterischer Prägnanz in seiner Lyrik ausspricht. pgo_013.016 Hier strebt er mit einer platonischen Begeisterung nach der Vermählung pgo_013.017 der Wahrheit und Schönheit, nach der Versöhnung von pgo_013.018 Wissenschaft und Kunst; dort nennt er die Schönheit die Bürgerin pgo_013.019 zweier Welten, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption pgo_013.020 angehört, indem sie ihre Existenz in der sinnlichen Natur empfängt und pgo_013.021 in der Vernunftwelt das Bürgerrecht erhält. Der beurtheilende Geschmack pgo_013.022 aber soll diese Vermittelung zwischen Sinnlichkeit und Geist übernehmen, pgo_013.023 Anschauungen zu Jdeeen adeln und die Sinnenwelt in ein pgo_013.024 Reich der Freiheit verwandeln. Und wenn Schiller in seiner "ästhetischen pgo_013.025 Erziehung des Menschengeschlechts" der Schönheit wieder pgo_013.026 einen pädagogischen Zweck unterzuschieben scheint; so verschwindet dieser pgo_013.027 Schein alsbald, indem gerade diese Abhandlung das Jdeal der Schönheit pgo_013.028 als die Einheit der Realität mit der Form, als das Jdeal der pgo_013.029 Menschheit selbst entwickelt. Von einzelnen Theilen der Poetik kamen pgo_013.030 Schiller's Bestrebungen am meisten der Tragödie zugute, indem er sich pgo_013.031 mit Vorliebe der Darstellung des Pathetischen und Erhabenen hingab. pgo_013.032 Seine Unterscheidung zwischen "naiver" und "sentimentaler" Dichtungsweise pgo_013.033 hat mehr einen literarhistorischen, als philosophischen Werth. pgo_013.034 Goethe dagegen, der Naturalist, der von dem einzelnen Phänomen ausging, pgo_013.035 beschäftigte sich mehr mit Kunstbetrachtung und zeigte hierbei
pgo_013.001 Haben sie doch in ihrem „Briefwechsel“ die folgenreichsten Betrachtungen pgo_013.002 über epische und dramatische Poesie zusammen niedergelegt pgo_013.003 und zusammen in ihren „Xenien“ den kritischen Jmperatorenthron pgo_013.004 errichtet, von dem sie den Föderalismus der deutschen Literatur in pgo_013.005 den Staub schmetterten. Daß Schiller von der Jdee des Schönen pgo_013.006 und Goethe von seiner Erscheinung ausging, war gerade der Grund, pgo_013.007 daß sie in der Mitte des Weges sich begegnen mußten! Schiller schrieb pgo_013.008 den allgemeineren Theil der „klassischen Poetik;“ er war ihr Metaphysiker. pgo_013.009 Jn der That sind seine ästhetischen Verdienste groß genug, pgo_013.010 um ihm in dieser Wissenschaft einen selbstständigen Platz zu sichern. pgo_013.011 Er hob die Einseitigkeit des subjectiven Kant'schen Standpunktes auf pgo_013.012 und machte zuerst die Jdee der Schönheit in ihrer freien Selbstständigkeit pgo_013.013 geltend. Jn seinen Aufsätzen: „über die tragische Kunst,“ pgo_013.014 „über das Erhabene,“ „Anmuth und Würde“ entwickelt er pgo_013.015 dieselben Jdeeen, die er mit dichterischer Prägnanz in seiner Lyrik ausspricht. pgo_013.016 Hier strebt er mit einer platonischen Begeisterung nach der Vermählung pgo_013.017 der Wahrheit und Schönheit, nach der Versöhnung von pgo_013.018 Wissenschaft und Kunst; dort nennt er die Schönheit die Bürgerin pgo_013.019 zweier Welten, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption pgo_013.020 angehört, indem sie ihre Existenz in der sinnlichen Natur empfängt und pgo_013.021 in der Vernunftwelt das Bürgerrecht erhält. Der beurtheilende Geschmack pgo_013.022 aber soll diese Vermittelung zwischen Sinnlichkeit und Geist übernehmen, pgo_013.023 Anschauungen zu Jdeeen adeln und die Sinnenwelt in ein pgo_013.024 Reich der Freiheit verwandeln. Und wenn Schiller in seiner „ästhetischen pgo_013.025 Erziehung des Menschengeschlechts“ der Schönheit wieder pgo_013.026 einen pädagogischen Zweck unterzuschieben scheint; so verschwindet dieser pgo_013.027 Schein alsbald, indem gerade diese Abhandlung das Jdeal der Schönheit pgo_013.028 als die Einheit der Realität mit der Form, als das Jdeal der pgo_013.029 Menschheit selbst entwickelt. Von einzelnen Theilen der Poetik kamen pgo_013.030 Schiller's Bestrebungen am meisten der Tragödie zugute, indem er sich pgo_013.031 mit Vorliebe der Darstellung des Pathetischen und Erhabenen hingab. pgo_013.032 Seine Unterscheidung zwischen „naiver“ und „sentimentaler“ Dichtungsweise pgo_013.033 hat mehr einen literarhistorischen, als philosophischen Werth. pgo_013.034 Goethe dagegen, der Naturalist, der von dem einzelnen Phänomen ausging, pgo_013.035 beschäftigte sich mehr mit Kunstbetrachtung und zeigte hierbei
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/35>, abgerufen am 24.11.2024.
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